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Oskar Gröning und die politisch motivierte Pervertierung des Rechtsstaats

Von Peter Haisenko 

Auch diese zwei Grundsätze gehören zum Rechtssystem eines demokratischen Rechtsstaats: Die Rechtskontinuität und das Verfahren, Resozialisierung höherwertig zu stellen als Strafe. Mit dem Urteil gegen den 96-jährigen Ex-SS-Mann Oskar Gröning ist gegen beide verstoßen worden. Auch die Ablehnung des Gnadengesuchs eines 96-Jährigen kann nur politisch begründet werden und ist eines Rechtsstaats unwürdig.

Wer jünger als 80 Jahre ist, darf „die Gnade der späten Geburt“ für sich in Anspruch nehmen. Er kann nicht mit Verbrechen der NS-Zeit in Verbindung gebracht werden. Jedenfalls nicht direkt, obwohl speziell für Deutsche schon mal eine „Erbschuld“ beschrieben worden ist. Keiner von uns „Jüngeren“, die im Westen aufgewachsen sind, ist jemals mit einem Gewissenskonflikt konfrontiert gewesen, ob er den Vorgaben seines Staats unbedingt Folge leisten muss/darf oder einer moralischen Pflicht zum Widerstand unterliegen könnte. Für ehemalige DDR-Bürger sieht das schon anders aus. Ich würde für keinen „Wessi“ meine Hand ins Feuer legen, ob er nicht aus Karriere- oder sonstigen Gründen ein zweifelhaftes Mitglied des Staatsapparats in einem Staat wie der DDR geworden wäre. Diese Entscheidung ist uns „Wessis“ erspart geblieben. Analog dazu kann auch niemand reinen Gewissens behaupten, er wäre während der NS-Zeit in jedem Falle im Widerstand gewesen, wenn er denn zu der Zeit gelebt hätte.

Wann ist ein Bürger verpflichtet, Widerstand zu leisten und kann er das überhaupt?

Es gibt immer gute und schlechte Menschen, bis hin zu abgrundtief schlecht. Genauso gibt es Rebellen und Mitläufer und diese können wiederum gut oder schlecht sein. Ein Rebell, der wegen seines vermeintlich höherwertigen moralischen Standpunkts mordet, macht sich genauso schuldig wie derjenige, der als Mitläufer andere verrät und damit Todesgefahr aussetzt. Wer aber einfach friedlich und gedankenlos sein Leben führen will und so angepasst und systemkonform lebt ohne wissentlich oder vorsätzlich zum eigenen Vorteil anderen Schaden zuzufügen, der ist wohl schwerlich zu verdammen. Tatsache ist nämlich, dass grob geschätzt etwa achtzig Prozent in Deutschland – und nicht nur hier – nach diesem Motto leben. Bei einigen Berufsgruppen ist eine solche Haltung allerdings nicht ganz unproblematisch. Man denke nur an die Systemjournalisten, die aus rein materiellen Gründen systemkonform schreiben und ihre Überzeugungen zur Nebensache machen. Bei aller Notwendigkeit zur Existenzerhaltung gelangen wir hier doch in einen moralisch immerhin bedenklichen Bereich. Vergessen wir nicht: Diese Art Journalisten haben auch im Dritten Reich als Stimme des Systems ihren Beitrag geleistet.

Dieser Greis soll ins Gefängnis

Die Frage ist schon oft diskutiert worden, inwieweit ein Bürger verpflichtet ist zu erkennen, ob und in welcher Form er gegen die Vorgaben seines Staats vorgehen, Widerstand leisten muss, soll, kann, darf. Die allgemeine Tendenz dazu geht in die Richtung, dass er es nicht kann, folglich nicht darf, weil er nicht in der Lage ist, eine eigenständig fundierte Entscheidung dazu zu treffen. Da hilft auch der „kategorische Imperativ“ Kants nicht wirklich weiter. Engt man diese Betrachtung altersmäßig ein, wird es noch deutlicher und damit komme ich zurück zu Oskar Gröning. Geboren 1921 war er 21 Jahre alt, als er in die Schreibstube in Auschwitz abkommandiert worden ist. Er selbst sagt aus, dass er Gräueltaten mitansehen musste, was ihn veranlasste, nur ein Jahr später drei Versetzungsgesuche zum Fronteinsatz zu stellen, um der für ihn unangenehmen Tätigkeit im Lager zu entkommen. 1944 wurde seinen Gesuchen stattgegeben und er wurde zur Ardennenoffensive abkommandiert. Gröning hat sich so von einer ungefährlichen Etappenposition für eine lebensgefährliche Aufgabe entschieden. Er war da nicht der einzige.

Was soll eine Gefängnisstrafe 70 Jahre nach der Tat bewirken?

Ein Rechtsstaat darf seine Rechtspraxis nicht zu weit vom natürlichen Rechtsempfinden entfernen, wenn er akzeptiert werden will. Der Fall Gröning wirft hier Fragen auf. Gröning war als Verwaltungsbeamter ins Lager abkommandiert. Macht sich ein Verwaltungsbeamter mitschuldig an Taten, auf die er keinen Einfluss hatte? Hätte eine Dienstverweigerung etwas am Schicksal der Gefangenen geändert? An seinem eigenen sehr wohl. Ihn hätte man an die Wand gestellt und erschossen. Ich persönlich danke Gott, dass er mich nie in eine solch prekäre Entscheidungssituation gebracht hat! Noch dazu im Alter von 22 Jahren. Aber ziehen wir doch eine Parallele zur Gegenwart. Käme irgendjemand auf die Idee, eine Sekretärin in einem Rüstungsbetrieb der Beihilfe zum Mord an Hunderttausenden unschuldiger Zivilisten anzuklagen? Oder gar den Personalchef von Black Water, die ihre Söldner weltweit zum Morden entsenden?

Resozialisierung ist wichtiger als Strafe, heißt es. Gibt es einen besseren Beweis für perfekte Resozialisierung als 70 Jahre lang tadelfrei zu leben? Welchen Sinn kann es haben, jemanden nach mehr als 70 Jahren gnadenlos – im wahrsten Sinn des Wortes – ins Gefängnis zu schicken? Erziehung, Resozialisierung? Scheidet wohl beides aus. Rache? Ist im Strafrecht nicht vorgesehen. Wiedergutmachung? Wohl kaum. Welchem Ziel kann da die Inhaftierung dienen? Ja, es ist nicht zu beanstanden, wenn ein Staatsanwalt und ein Gericht meinen, ihre Pflicht zu erfüllen, indem sie eine Schuld tief im letzten Jahrhundert aktenkundig machen. Auch eine Schuld, die nicht unbedingt dem Rechtsempfinden entspricht. Aber welchem Ziel kann es dienen, einen 96-Jährigen einzusperren? Einen Mensch, der dem letzten Gericht sowieso schon sehr nahe ist?

Sind Prozesse gegen Greise Prozesse „wider das Vergessen“?

Angesichts der Prozesse der letzten Jahre, wo immer wieder 90-Jährige im Rollstuhl antreten mussten, sollte die Geschichte der Verjährungsfristen für Mord kurz betrachtet werden. Das Strafgesetzbuch bestimmte in seiner von 1871 bis 1969 gültigen Fassung (damals §§ 66 und 67) für die Verjährung von Verbrechen wie Mord, die mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht waren, eine Frist von zwanzig Jahren. 1965 wären so alle (politischen) Morde der NS-Zeit verjährt gewesen und der Strafverfolgung entzogen. Das durfte nicht sein und so ist mit Wirksamkeit 1969 die Verjährung für Morde abgeschafft worden. Vorsorglich wurde auch die Beihilfe mit einbezogen und das war jetzt die Grundlage für den Prozess gegen Gröning und andere Greise.

So sehr ich es begrüße, dass Mord nicht zu schnell verjährt, so vermisse ich doch bei allen Prozessen der letzten Jahre gegen damals jugendliche NS-Verbrecher ein angemessenes Augenmaß. So wie diese Verfahren ablaufen, fällt es schwer, sie nicht als politisch motivierte Prozesse zu sehen und genau diese Art von Prozessen wird von den westlichen Staaten immer wieder Ländern vorgeworfen, die als diktatorisch und undemokratisch bezeichnet werden. Die Prozesse gegen Greise in Deutschland dürften wohl als Prozesse „wider das Vergessen“ bezeichnet werden. Sie bieten in Zusammenarbeit mit willfährigen Medien die Möglichkeit, erneut auf die ewige Schuld Deutscher hinzuweisen so, wie auch in den letzten Jahren eine Flut von Dokumentationen über die NS-Zeit die Nebenkanäle der Öffentlich-Rechtlichen überschwemmt.

Weshalb beansprucht Polen einen moralisch überlegenen Status?

Selbst der israelische Botschafter hat Deutschlands Aufarbeitung vergangener Verbrechen als beispielhaft gelobt. Kein anderes Land hat jemals Ähnliches geleistet. Ist es da wirklich noch notwendig, immer neue Verfahren an den Haaren herbeizuziehen, Beihilfe zu konstruieren, weil man sonst keine Delinquenten mehr finden kann? 73 Jahre nach Kriegsende sind damals Erwachsene mindestens 94 Jahre alt. Wollen wir wirklich erleben, dass ein 90-jähriger vor eine Kammer nach Jugendstrafrecht gestellt werden muss, weil er damals noch nicht volljährig war? Die Verbrechen der NS-Zeit sind umfassend dokumentiert und ausreichend präsent. Mit Schauprozessen à la Gröning wird das Gegenteil erreicht. Sie produzieren eher Ablehnung.

Ohne aufrechnen zu wollen, muss man sich schon fragen, warum sich die deutsche Politik in dieser Hinsicht nur mit sich selbst beschäftigt. Von 1945 bis 1949 sind im Rahmen der Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten mindestens sechs Millionen Deutsche grausam und sinnlos ermordet worden. Sie wurden in Polen und Tschechien in Lagern zu Tode gefoltert, vergewaltigt oder einfach auf der Straße erschlagen. Adenauer selbst hat diese Zahl benannt, aber es gilt immer noch als Tabubruch, darüber zu reden. Die Folge ist, dass zum Beispiel die polnische Regierung für sich einen moralisch überlegenen Status beansprucht und nach 73 Jahren über Reparationsforderungen redet.

Nein, man kann nicht Unrecht gegen Unrecht aufrechnen, aber wäre es nicht die Pflicht eines Staats, Aufklärung zu fordern für Verbrechen, die gegen seine Bürger begangen worden sind? Es geht nur um ehrliche, unvoreingenommene Aufklärung, nicht um Strafe, denn auch für die Schlächter in Polen und Tschechien gilt, dass sie bereits tot sind oder ebenso alt wie Oskar Gröning. Die wahren Verbrecher, die Politiker und Befehlshaber, sind sowieso schon tot. Hier wie dort. Ebenso wenig wie ich befürworten kann, in Deutschland Greise vor Gericht zu stellen für Taten, die mehr als 70 Jahre zurückliegen, lehne ich das auch für greise Täter in anderen Ländern ab. Wenn wir aber in Europa miteinander auf Augenhöhe leben wollen, müssen auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit anderer anerkannt sein, damit sich niemand ungerechtfertigt auf das Hohe Ross der Moralität setzen kann. Es war eine schlimme Zeit und keine, wiederhole keine Nation kann für sich eine weiße Weste reklamieren. Aber es ist nur Deutschland, das seine Verbrechen aufgearbeitet hat. So gesehen, ist es Deutschland, das den aktuell höchsten moralischen Standard beanspruchen kann.

Was hat „Lebenslänglich“ für einen 96-Jährigen mit Gerechtigkeit zu tun?

Die gnadenlose Härte gegen Gröning steht im harten Kontrast zum Umgang mit jüngeren Schwerverbrechern. Die bekommen Freigang und andere Vergünstigungen, die auch nicht immer dem Rechtsempfinden Genüge tun. Eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung wird bei Beihilfe zum Mord normalerweise nicht verhängt. Einen 96-Jährigen wegen desselben Vorwurfs für vier Jahre ins Gefängnis zu stecken, ist aber mit höchster Wahrscheinlichkeit lebenslang, denn dass er das Gefängnis noch einmal lebend verlassen wird, ist kaum zu erwarten. Was das noch mit Gerechtigkeit zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Gröning wird sowieso in naher Zukunft vor seinen höchsten Richter treten müssen und kann dann nur hoffen, die Gnade zu finden, die ihm das weltliche Gericht verweigert. Früher oder später werden sich die Richter und Staatsanwälte auch dort einfinden müssen und sie sollten sich schon mal Gedanken machen, wie ihr Urteil vor dem Höchsten Richter ausfallen könnte. Man kann gespannt sein, ob der Bundespräsident als letzte weltliche Instanz die Größe besitzt, Gnade walten zu lassen.

Vielleicht bleibt ihm diese Entscheidung ja auch erspart, denn derzeit liegt Gröning im Krankenhaus und kann seine Haft vorerst sowieso nicht antreten. Pressemeldungen zufolge soll er in seinem Haus im niedersächsischen Schneverdingen unglücklich gestürzt sein und sich am Heizkörper schwere Verbrennungen zugezogen haben. Wie es heißt, musste am Oberschenkel sogar Haut transplantiert werden. Wie lange wird die Genesung des 96-Jährigen dauern? Wird er sich je davon erholen? Oder wird man auch davor nicht zurückschrecken, den alten Mann im Notarztwagen mit Blaulicht und Tatütata von der Klinik direkt auf die Krankenstation im Gefängnis zu schaffen?



Die „weiße Weste“ der Alliierten hat den in der letzten Zeit ein paar rabenschwarze Flecken bekommen, als über Vergewaltigungen, Morde und die Toten auf den Rheinwiesen berichtet wurde. Was aber in Polen und Tschechien von 1945 bis1949 geschehen ist, ist nach wie vor mit einem Tabu belegt. In meinem Werk „England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert“ berichte ich ausführlich auch darüber und weise nach, dass zwischen 1945 und 1949 mindestens 13,4 Millionen Deutsche einen vorzeitigen Tod gefunden haben, der mit nichts zu rechtfertigen ist. 73 Jahre nach dem Krieg sollte es erlaubt sein, auch an deren Schicksal zu erinnern. Es waren unschuldige Zivilisten, Frauen und Kinder. Lesen Sie dazu „England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert“. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag zu bestellen hier.


Ja, es war eine schlimme Zeit, aber es waren eben nicht nur Deutsche, die sich jenseits aller Menschlichkeit schuldig gemacht haben. Das sage ich als Sohn eines Russen, der von Stalins Schergen ins Todeslager gesteckt worden ist und fliehen konnte. Er hat seine Geschichte aufgeschrieben und es ist ein großer Roman geworden. Wenn man dieses einmalige Dokument gelesen hat, versteht man besser, welche schrecklichen Dramen sich damals auf allen Seiten abgespielt haben und warum man niemals nur eine Seite pauschal verdammen darf. „Der Weg vom Don zur Isar“ ist ein spannender Roman in zwei Bänden, der genau dort beginnt, im Jahr 1932, wo heute wieder gekämpft wird und Menschen sinnlos sterben – im Donbass. Er zeigt auf, dass die Wurzel für den Hass in der Ukraine bereits 1940 zu finden ist und wir nur echten Frieden finden können, wenn die Vergangenheit auf allen Seiten ohne ideologische Scheuklappen aufgearbeitet wird. Die wahren Verbrecher sind immer die Politiker! „Der Weg vom Don zur Isar“ ist erhältlich im Buchhandel oder besser direkt zu bestellen beim Verlag hier.

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