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Der Völkermord an Armeniern: Doppelmoral und die „deutsche Mitschuld“

Von Peter Haisenko 

Es gibt kein Land, dass die Untaten seiner Vorfahren akribischer dokumentiert, eingestanden, aufgearbeitet und die Täter bestraft hat als Deutschland. Gibt das der deutschen Politik das Recht, dasselbe Verhalten von anderen Nationen einzufordern? Wenn ja, wie selektiv darf diese Forderung sein oder wie umfassend müsste sie sein? Muss man gar Vertretern der Erdogan-Partei AKP zustimmen, die Deutschlands Resolution zum Genozid an Armeniern selektive Doppelmoral vorwerfen?

Am 9. Dezember 1948 beschloss die Generalversammlung der Vereinten Nationen in der Resolution 260 die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, die am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Grundlage war die Resolution 180 der UN-Vollversammlung vom 21. November 1947, in der festgestellt wurde, dass „Völkermord ein internationales Verbrechen [ist], das nationale und internationale Verantwortung von Menschen und Staaten erfordert“, um der völkerrechtlichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu gedenken. Wie ich dazu aufzeigen werde, war diese Resolution von Anfang an unehrlich und wurde nur selektiv eingesetzt. Die jetzt im Bundestag eingebrachte Resolution zu den Armeniern folgt dieser Tradition.

Genozide über die niemand spricht

Zunächst sollte jedoch die Frage gestellt werden ob es sinnvoll es sein kann, Resolutionen zu verabschieden, die Verbrechen betreffen, die 100 Jahre zurückliegen. Wenn diese Frage grundsätzlich bejaht wird, muss sie erweitert werden darum, wie viele Jahrhunderte in diese Aufarbeitung einbezogen werden sollen. 120 Jahre? 240 Jahre? Diese beiden Zahlen habe ich nicht willkürlich ausgewählt. Die Kongogräuel in den Jahren 1888 bis 1908 waren Taten unter Verantwortung des belgischen Königs, Leopold II., die zur Dezimierung der Bevölkerung des Kongo-Freistaats durch Sklaverei, Zwangsarbeit und massenhafte Geiselnahmen, Verstümmelungen und Tötungen führte und schätzungsweise acht bis zehn Millionen Tote (etwa die Hälfte der damaligen Bevölkerung) forderte. Nach der Unabhängigkeitserklärung der USA sind die eingeborenen indigenen Stämme systematisch ausgerottet worden, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Fakt ist jedoch auch, dass innerhalb des 20. Jahrhunderts Völkermorde begangen worden sind, die niemals als solche gebrandmarkt wurden. Alle Völkermorde, die nicht ansatzweise als solche aufgearbeitet wurden, haben eines gemein: Sie sind vom British Empire, den USA oder ihren jeweiligen Verbündeten begangen worden. Gänzlich Tabu ist es, bei den zwischen 1945 und 1949 ermordeten mindestens 13,4 Millionen Deutschen von einem Völkermord zu sprechen. (Nachweis hier: „England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert“ oder bei dem Kanadier James Baque „Verschwiegene Schuld“). Speziell Deutschland selbst verweigert seinen Bürgern sogar das geschichtliche Wissen darüber, indem dieser Genozid in keinem offiziellen Lehrbuch benannt werden darf. Man muss kein AKP-Freund sein, wenn man ins Grübeln über Doppelmoral gerät, wenn zwar der türkische Völkermord an Armeniern resolutioniert, der am eigenen Volk gleichzeitig ignoriert wird, obwohl letzterer 30 Jahre jünger datiert.

Gegen die Kriegsverbrechen der USA wird nicht resolutioniert

Betrachtet man die Geschichte der letzten 70 Jahre ohne ideologischen Filter, dann steht fest: Kein Land hat mehr Kriege geführt als die USA. Alle diese Kriege erfolgten ohne Kriegserklärung, waren folglich Verstöße gegen das Völker- und Kriegsrecht und haben Millionen das Leben gekostet. Wie viele Tote muss es gegeben haben, damit ein Völkermord konstatiert werden sollte? Selbst wenn die wachsweiche Definition der UN für Völkermord angewendet wird, kommt man nicht umhin, den USA multiplen Völkermord vorzuwerfen. Das einzige Land, das sich hierzu geäußert hat, ist Malaysia. Zum Jahreswechsel 2010/11 hat das Gericht in Kuala Lumpur die Herren Bush, Cheney, Blair und Konsorten als Kriegsverbrecher verurteilt und zur Fahndung ausgeschrieben. Böse Zungen könnten behaupten, dass die Malaien für diese ungeheuerliche Vorgehensweise mit dem Verlust zweier Verkehrsflugzeuge „bestraft“ worden sind: MH 370 und MH 17.

Die USA befehlen Sanktionen gegen Staaten, die sich ihrem absoluten Herrschaftsanspruch widersetzen und einen eigenen Weg gehen wollen. Betrachten wir beispielhaft Irak und Syrien müssen wir feststellen, dass sich diese Sanktionen auch auf Lebensmittel und – ganz menschenverachtend – auf medizinische Güter erstrecken. Natürlich benennt die UN keine Zahlen darüber, wie viele Menschen ihr Leben wegen dieser künstlich erzeugten Unterversorgung verloren haben. Tatsache ist, dass aktuell in Syrien Menschen sterben müssen, weil sie nicht ausreichend medizinisch versorgt werden können. Darf man sagen, dass auch das ein Völkermord ist? Aber wir müssen die Definition gar nicht derart ausweiten. Es reicht aus zu betrachten, wie viele Menschen auch in neutralen Ländern durch US-Bomben umgekommen sind und weiterhin an Blindgängern sterben, um deren Beseitigung sich die USA einen Dreck scheren. Ich erinnere hier – wieder beispielhaft – an Laos, Kambodscha und nicht zu vergessen Vietnam. Die USA haben allein auf das neutrale Kambodscha mehr Bomben abgeworfen, als im gesamten Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Gibt es dazu irgendeine Resolution des deutschen Bundestages oder gar der UN?

Die Ausbeutungspolitik des British Empire ist sakrosankt

Betrachtet man die aktuellen (Dauer-)Konflikte und Kriege mit ihren geschichtlichen Grundlagen unvoreingenommen, kommt man zu dem Ergebnis, dass alle diese mörderischen Geschehnisse ursprünglich darauf zurückzuführen sind, dass das British Empire in diesen Ländern seine wirtschaftlichen und machtpolitischen Interessen mit Militärgewalt durchgesetzt hat. Um das zu erkennen, muss man allerdings bis ins 19. Jahrhundert zurückblicken. Wieder Beispielhaft seien genannt: Sudan, Afghanistan, Kaschmir (Indien/Pakistan) und nicht zu vergessen der gesamte Nahe und Mittlere Osten inklusive Zypern. Vom 20. Jahrhundert an stehen hier die USA an der Seite des British Empire. Die Eroberung der Philippinen als Militärstützpunkt im Pazifik zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Millionen Philippinen das Leben gekostet. Interventionen der CIA in Mittel- und Südamerika hat Millionen Leben gekostet und mehrere demokratisch gewählte Präsidenten wurden ermordet. Ecuador, Panama, Chile. Gibt es dazu irgendeine Resolution des deutschen Bundestages oder gar der UN?

Während ihrer Herrschaft über Indien hat die gnadenlose Ausbeutungspolitik der Briten etwa 60 Millionen Menschen dort das Leben gekostet, weil selbst in Hungerzeiten riesige Mengen an Lebensmitteln außer Landes gebracht wurden. Angesichts all dessen stelle ich nochmals die Frage, wie weit in der Geschichte zurückgegangen werden sollte, wenn es darum geht, Völkermorde oder andere Staatsverbrechen aufzuarbeiten. Doch beschränken wir uns zunächst auf die letzten 150 Jahre. Belgien und der Kongo. Zehn Millionen Tote. Gerade mal zehn Jahre vor den Armeniern. Warum ist das kein Thema, wo es doch zehnmal mehr Tote waren, als der Türkei jetzt vorgehalten werden? Oder eben die mindestens 13,4 Millionen Deutsche, die zwischen 1945 und 1949 ermordet wurden?

ALLE Kriegsverbrechen müssen dokumentiert und geahndet werden

Die Resolution des Bundestages zu Armeniern beinhaltet einen bemerkenswerten dritten Absatz. In diesem wird eine Schuld des Deutschen Reichs festgehalten und diese empfinde ich als ziemlich weit hergeholt, eher konstruiert. Könnte es also sein, dass deutsche Regierungen Völkermorde vornehmlich dann in Resolutionen als solche anprangern, wenn damit eine weitere Schuld Deutschlands „belegt“ werden kann? Dass Völkermord an Deutschen hingegen beiseite gelassen wird, weil „wir ja selbst daran Schuld haben“? Gerade der letzteren Argumentation widerspreche ich energisch.

1945 war der Krieg beendet. Die US-Verwaltung hat nach dem Krieg in unmenschlicher Weise und ohne Not allein auf den Rheinwiesen den Tod von etwa zwei Millionen deutscher Männer nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern vorsätzlich gehandelt. (Lesen Sie dazu dieses Dokument eines amerikanischen Soldaten. Zum Download hier klicken.) Den Vorsatz kann man unter anderem daran festmachen, dass sie das Kriegsrecht bewusst umgangen haben, indem sie deutschen Kriegsgefangenen diesen Status genommen und sie als „DEF´s“ in die Lager gesperrt haben (POW = Prisoner Of War, DEF = Disarmed Enemy Forces). Der Verstoß gegen Kriegsrecht war, dass DEF´s nicht eingesperrt werden dürfen, dafür aber der Sieger auch keine Verantwortung für deren Versorgung übernehmen muss. Diesen miesen Trick wenden die Amerikaner bis heute an. In Guantanamo werden nur DEF´s gefoltert.

Ich bin grundsätzlich dafür, alle Kriegsverbrechen und alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren und nach Möglichkeit zu ahnden, zumindest als solche mit einer Ächtungsresolution zu belegen. Es müssen aber wirklich alle sein, ohne politische Auslassungen und vor allem ohne Ansehen, wer sie begangen hat. Erdogan hin oder her, dem Vorwurf der Doppelmoral ist schwer zu widersprechen. Wenn weiterhin, wie in diesem Fall, nur selektiv resolutioniert und angeprangert wird, wird die Menschheit nicht wirklich aus der Geschichte lernen können und wir werden keinen Frieden finden. Der größte Verbrecher der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die USA, die schon nach Vietnam ihre Todesschwadronen entsandt haben mit dem Auftrag, so viele Menschen wie möglich undifferenziert zu ermorden, wird solange weitermachen, wie er nicht einmal für seine Gräueltaten an den Pranger gestellt wird. Und solange das so ist, hat „der Westen“ jegliche moralische Rechtfertigung verwirkt, anderen Moral zu predigen.

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