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Kann die Tschechoslowakei das Modell zur Lösung der Ukraine-Krise sein?

Von Peter Haisenko 

Östlich des Rheins gibt es keine Staatsgrenze, die länger als 100 Jahre Bestand hat. Die umfassende Neueinteilung Osteuropas ist von Großbritannien 1918 mit den Versailler Verträgen bestimmt worden. Die Briten haben dabei keinerlei Rücksicht genommen auf jahrhundertealte ethnisch gewachsene Strukturen. So folgten in den Jahren bis 1939 in den neugeschaffenen Staaten „ethnische Säuberungen“, die mit Mord, Folter, Unterdrückung und Vertreibungen einhergingen. Besonders betroffen davon waren die Gebiete um Lemberg in weitem Umkreis, also die heutige West-Ukraine, Polen und die damalige Tschechoslowakei. Für die willkürlich „zusammengeschusterte“ Tschechoslowakei hat man 1992 eine friedliche Lösung gefunden, die Bestand hat. Warum sollte das für das Kunstgebilde Ukraine nicht möglich sein?

Tschechoslowakei 1928 - Quelle für alle Bilder: Wikipedia - Durch Anklicken vergrößern

Das von den Briten geschaffene Kunstgebilde Tschechoslowakei bestand im Wesentlichen aus vier Teilen: Böhmen, Mähren-Schlesien, Slowakei und Karpatenrussland. Karpatenrussland, ganz im Osten gelegen, wurde nach Ende des Zweiten Weltkriegs von Stalin abgetrennt, annektiert und der Ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Dieses Gebiet gehört jetzt zur Ukraine ebenso, wie die ehemals zum K&K-Reich gehörigen Teile um Lemberg – Wolhynien, Galizien, Bukowina. In diesen stark mit Polen durchmischten Gegenden haben ukrainische Nationalisten 1944 Massaker an Polen verübt, denen nach Schätzungen mehr als 40.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Dies war eine Reaktion auf die ethnischen Säuberungen und Unterdrückungen durch Polen bis 1939.

Die Tschechoslowakei, der unmögliche Vielvölkerstaat

Tschechoslowakei - Sprachverteilung um 1930

Zurück zur Tschechoslowakei. Wie die Karte zeigt, befanden sich hier 1918 sechs sprachlich-ethnisch abgegrenzte Bereiche. Es wurde vorwiegend Deutsch, Tschechisch, Slowakisch, Polnisch, Ukrainisch und Ungarisch gesprochen. Die Sprachgrenzen verliefen einigermaßen scharf abgegrenzt, jedoch wurde in den Randgebieten selbstverständlich die Sprache des Nachbarn beherrscht. Mit der Abtrennung von Karpatenrussland 1945 verschwand der ukrainische Sprachanteil nahezu vollständig. Ab 1945 sind die Deutschstämmigen vertrieben worden und mit ihnen weitgehend die deutsche Sprache. Bei diesem Vorgang zeigte sich allerdings deutlich, wie sehr sich Tschechen und Slowaken unterscheiden. Während sich Tschechen durch besondere Grausamkeit und Verbrechen gegenüber Deutschstämmigen hervorgetan haben, handelten Slowaken anständig. Sie stellten die Deutschstämmigen vor die Wahl, die (tschecho-)slowakische Staatsangehörigkeit zu wählen, oder geordnet auszureisen.

Nach dem Ende des Kommunismus zeichnete sich bald ab, dass der föderative Staat Tschechoslowakei auf Dauer keinen Bestand mehr haben würde. Zu den ersten Zerwürfnissen kam es während des sogenannten „Gedankenstrich-Krieges“ um die Landesbezeichnung. Von April 1990 bis Ende 1992 hieß das Land Die Tschechische und Slowakische Föderative Republik (ČSFR; vereinzelt auch als Tschechoslowakische Bundesrepublik bezeichnet) mit den Kurzformen Tschechoslowakei in Tschechien beziehungsweise Tschecho-Slowakei in der Slowakei. Aufkommende Interessenskonflikte zwischen den beiden Landesteilen führten 1992 zum Ende der Tschechoslowakei.

Friedliche Trennung ohne fremde Machtinteressen

Ohne Referendum wurde vom Parlament die Auflösung der Föderation zum 31. Dezember 1992 und damit die Bildung der beiden neuen Staaten Tschechien und Slowakei zum 1. Januar 1993 beschlossen. Damit waren die Konflikte zwischen Tschechen und Slowaken beendet, obwohl die Slowaken sehr wohl Grund für Ressentiments gehabt hätten. Die Prager Regierung hatte den Rüstungs- und Fahrzeugkonzern Tatra vor der Teilung aufgelöst, der in der Slowakei ein wichtiger industrieller Faktor gewesen ist. Alles verlief geräuschlos, und niemand hat an der Zerschlagung des Kunstgebildes der Briten Anstoß genommen. Ein Musterbeispiel dafür, wie ethnische Konflikte friedlich gelöst werden können, bevor es zum Bürgerkrieg kommen muss. Allerdings wird an diesem Beispiel auch sichtbar, dass das nur funktionieren kann, solange eine Einmischung von außerhalb unterbleibt, die von (welt-)machtpolitischen Interessen bestimmt ist. Weiterhin wird sichtbar, dass Konflikte dadurch entstanden sind, dass Großbritannien Grenzen willkürlich neu bestimmt hat. Ich erinnere an dieser Stelle an Zypern, den Nahen Osten, Kaschmir, Pakistan-Indien und ja, letztlich der gesamte europäische Osten vor 1939.

Die Staatsgrenzen der Ukraine sind nicht historisch gewachsen

Einkommensverteilung in der Ukraine

Kommen wir zur Ukraine: Dieses Land existiert als souveräner Staat in den aktuellen Grenzen seit nicht einmal 25 Jahren. Dennoch stellt der Westen diese Grenzziehungen geradezu als heilig und definitiv unveränderlich dar. Was für ein Unsinn! Ähnlich wie die Tschechoslowakei, ist die Ukraine ethnisch aufgeteilt in einen Ost- und einen Westteil, die allerdings weniger gemeinsam haben, als Tschechen und Slowaken. Deren Sprachen sind sich näher als das Russische und das Ukrainische. Es gibt ein deutliches Wirtschaftsgefälle von Ost nach West. Im eher russischstämmigen Ostteil ist das Durchschnittseinkommen bis zu dreimal höher als in den westlichen Provinzen (siehe Karte). Man vergleiche hier die Zerschlagung Jugoslawiens, die im wirtschaftlich dominanten Norden ihren Anfang genommen hat. Ähnlich Jugoslawiens sind in der Ukraine die ethnischen und wirtschaftlichen Konflikte nur deswegen 60 Jahre lang nicht virulent geworden, weil die harte Knute des Sowjetkommunismus dies verhindert hat.

Die Wahlergebnisse in der Ukraine 2004

Auch die wenigen Wahlen, die bislang in der Ukraine stattgefunden haben, zeigen eine unübersehbare Spaltung des Landes in Ost und West (siehe Karte). Diese Karte zeigt auch, dass die Krim einen Sonderfall darstellt, und nur bedingt auf den restlichen Osten der Ukraine übertragbar ist. Die eindeutige Mehrheit Russischstämmiger auf der Krim findet sich im übrigen Osten nicht so deutlich. Weiterhin unterscheidet sich der Osten vom Westen durch die Religion. Russisch-Orthodox und Griechisch-Orthodox.

Weite Teile der Westukraine sind der Ukraine erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zugeschlagen worden. Einst Teile der Österreichischen K&K-Monarchie, danach gehörten sie über Jahrzehnte zur Tschechoslowakei und Polen. Nicht zu vergessen, große deutsche Minderheiten und eine Vielzahl von Juden, die jedoch überwiegend das Land verlassen haben. Das Jiddische hatte dort seine Heimat. Genau genommen, gab es in der Geschichte bis 1991 keinen souveränen ukrainischen Staat, der völkerrechtlich als solcher betrachtet werden könnte. Schon gar nicht in den heutigen Grenzen.

Parlamentarier prügeln sich

Betrachtet man all diese Fakten, drängt sich die Frage auf, welcher Anenzephale aus diesem Pulverfass einen einzigen Staat gemacht hat. So, wie sich im Zweiten Weltkrieg in der Westukraine (!) Partisanen gegenseitig bekämpft haben – ukrainische Nationalisten, Polen, Moskali und Reste der Roten Armee – prügeln sich heute dieselben Fraktionen im Kiewer Parlament. Unversöhnlich. Nebenbei sei hier angemerkt, dass die Partisanen 1944 die Deutsche Wehrmacht nicht angegriffen haben, weil diese als Befreier vom Sowjetkommunismus gesehen worden ist. (Siehe Buchauszug unten).

Welchen Sinn kann es also haben, jetzt die nächste Präsidentenwahl abzuhalten? So wie die Dinge sich inzwischen entwickelt haben, sind wirklich freie und gleiche Wahlen, an denen sich alle wahlberechtigten Bürger der Ukraine beteiligen, sowieso nicht mehr möglich. Eine schiere Illusion! Abgesehen davon: Es kann und wird keinen Präsident geben, der alle Ukrainer vertritt und hinter sich weiß. Janukowitsch war so gesehen ein echter Sonder- und Glücksfall, denn er ist halber Pole, sozusagen neutral. Aber auch ihm ist es nicht gelungen, Einigkeit herzustellen. Dass die Korruption, die er und seine Führungsclique an den Tag gelegt haben, dem Einigungsprozess des Landes auch nicht wirklich dienlich war, sei hier nur am Rande erwähnt. Aber auch die „Maidan-Regierung“ ist durchsetzt mit Oligarchen und lässt wenig Hoffnung aufkommen, dass sie ernsthaft Korruption bekämpfen will.

Zwei große Flächenstaaten

Die Ukraine ist ein Flächenstaat, deutlich größer als die Bundesrepublik Deutschland. Allerdings hat das mit 603.700 qkm flächenmäßig größte Land Europas nur 45 Millionen Einwohner. Was die Wirtschaft angeht, hat die Ukraine seit Auflösung der Sowjetunion nur abgebaut. Bis heute ist die Wirtschaftsleistung zu Zeiten als Sowjetrepublik nicht wieder erreicht worden. Allein dieser Fakt macht deutlich, dass dieses Land in dieser politischen Konfiguration nicht entwicklungsfähig ist. Die Armut allein ist bereits ein destabilisierender Faktor. Hinzu kommt das Ost-West-Gefälle. Die Ukraine in ihrer heutigen Form wird nicht befriedet werden können.

Es gibt nur eine Lösung. Die Ukraine muss aufgeteilt werden in zwei eigenständige Staaten, nach dem Vorbild der Tschechoslowakei. Eine mögliche Grenzziehung ergibt sich aus der Karte weiter oben, die die faktische politische Aufteilung des Landes demonstriert. Weil die ethnische Trennung in der Ukraine nicht so eindeutig ausfällt wie in der Tschechoslowakei, müssen die Bürger selbst in einem Referendum darüber entscheiden, ob sie ihren Wohnort, ihre Heimat lieber in einer Ost- oder Westukraine sehen. Entlang der Linie, wo die Grenze der Mehrheiten verläuft, sollte die Teilung der Ukraine vollzogen werden. Selbstverständlich kann anschließend jeder einzelne für sich entscheiden, ob er in den jeweils anderen Teil der Ukraine wandern will. So, wie es in jedem freien Land möglich ist.

Für und Wider

Was spricht dafür? Es würden zwei Staaten entstehen, die sowohl flächenmäßig als auch von der Bevölkerungsanzahl die meisten Staaten der EU übertreffen werden. Der Westteil kann sich der geliebten NATO anschließen und der Ostteil bildet den Puffer zu Russland, auf den Putin nicht verzichten kann und will. Besser allerdings wäre es, beide Teile würden sich der Neutralität verschreiben. Sie könnten als Freihandelszonen friedlich und prosperierend zusammenarbeiten, gleichsam als Makler zwischen Ost und West, durch den die Warenströme geleitet werden, wie es bereits mit dem Gas aus Russland praktiziert wird. Wie positiv sich Neutralität auf Dauer auswirkt, kann (nicht nur) am Beispiel Schweiz oder Österreich betrachtet werden.

Was spricht dagegen? Da fällt mir nur eines ein. Die Ukraine wäre dann ein leuchtendes Beispiel dafür, wie man Frieden schaffen kann, indem der Volkswillen respektiert wird, und die Dogmen unveränderlicher Grenzen endlich im Müll der Geschichte entsorgt werden. Grenzen, die weder geomorphologisch, noch ethnisch logisch sind, sondern mehr oder weniger willkürlich aus machtpolitischen Interessen hergestellt wurden. Die friedliche Aufteilung der Ukraine würde einen Präzedenzfall schaffen, der den Machtpolitikern natürlich nicht behagt. Aber ist es nicht gerade in Zeiten der Globalisierung eher unerheblich, welchem Staats- oder Machtgebilde eine Wirtschaftszone zugeordnet ist? Der wichtigste Faktor ist und bleibt Frieden. Nur im Frieden kann stabile wirtschaftliche Prosperität wachsen.

Wer also wirklich und ehrlich eine positive Entwicklung für alle Menschen in der Ukraine wünscht, muss sich für eine friedliche Aufteilung der Ukraine einsetzen. Da kann die UNO einmal zeigen, dass sie wirklich dem Wohl der Menschen dienen will. Es ist an der Zeit, die vom British Empire geschaffene Weltordnung auf den Prüfstand zu stellen und die Menschen in der Ukraine (und nicht nur dort) zu fragen, was sie wirklich wollen.

 

Wie waren die Zustände in der Ukraine im Jahr 1944?

Dazu das Buch von Vadim Grom:

Der Weg vom Don zur Isar

Viele Menschen haben den Weg zur schönen Isar gefunden, um fortan hier zu leben. Das Buch „Der Weg vom Don zur Isar“ beschreibt einen außergewöhnlichen, ja einmaligen Weg. Er beginnt in der Sowjetunion, 1932. In schonungsloser Offenheit erzählt Vadim Grom aus eigener Erfahrung über das Leben in Russland, wie es wirklich war. Er berichtet vom einfachen Glück und heiteren Stunden in größter Armut ebenso wie von der allgegenwärtigen Angst vor der übermächtigen Staatsgewalt. Angst in Dimensionen, wie sie für uns Westeuropäer schier unvorstellbar ist. Er berichtet vom Leben in der Kolchose, und was er in den Vernichtungslagern Stalins erlebt hat. Er erzählt von Liebe und vom sinnlosen Morden. Er lässt uns die Zustände in den Gefängnissen der Sowjetunion erleben, in ihrer ganzen Menschen verachtenden Grausamkeit.

Mit seinem Roman führt uns Vadim Grom in eine Welt, die in der modernen Zeit fast in Vergessenheit geraten ist. Besonders sein Blickwinkel auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs aus der Sicht eines jungen Russen eröffnet dem Leser neue Perspektiven und ist in dieser Form einmalig. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, dem es mit viel Glück nicht nur gelungen ist Stalins Terror zu überleben, sondern während des Krieges seinen Weg zu finden, der ihn schließlich 1945 nach Deutschland geführt hat. Vadim Grom berichtet nicht aus der Sicht eines Dissidenten, sondern aus der eines einfachen Bürgers, der durch widrige Zufälle in den Fokus der Vernichtungsmaschinerie Stalins geraten ist. So vermittelt er uns ein tieferes Verständnis für die Geburtswehen der neuen Welt in Russland und des ehemaligen Ostblocks.

Vadim Grom: Der Weg vom Don zur Isar, AnderweltVerlag,

ISBN 978-3-940321-12-1/ 978-3-940321-15-2

 

Auszug aus Band 2, Seite 161 bis 164

Ein „V-Mann“ kam spät in der Nacht aus einem fünfzehn Kilometer entfernten Dorf. Die GFP (Geheime Feld Polizei) hatte einige „V-Leute“ ( Vertrauensleute ) an mehreren Orten. Sie hielten ihre Verbindung mit den Deutschen geheim, berichteten über alles Wissenswerte. Zum großen Teil waren es Menschen, die aus ehrlicher Überzeugung handelten, die Sowjets hassten und auf die Deutschen ihre Hoffnungen setzten. Sie lehnten eine Belohnung stolz ab, nahmen höchstens ein Päckchen Tabak als Freundschaftsgeschenk an. Einige andere nahmen gierig alles an, was man ihnen anbot. Gorew vermutete stark, dass die Letzteren früher MWD-Seksoten (Spitzel des sowjetischen Geheimdiensts) waren und, sobald die Sowjets wiederkommen, ihre Dienste wieder der MWD zur Verfügung stellen werden.

Dieser Mann brachte allerhand Mut auf, in der Nacht, allein, bei scharfem Frost fünfzehn Kilometer durch einsame Steppe zu Fuß zu wandern. Er schlich sich in Golowanewsk durch die Streifen hindurch, klopfte bei der GFP an, holte die Leute aus dem Schlaf. Er erzählte, dass ein Fremder wieder in seinem Dorf war, den er schon einige Male früher bemerkt hatte, und wieder in derselben Kate, die von zwei jungen Schwestern bewohnt war, über Nacht blieb. Wenn man sich beeilen würde, könnte man ihn noch erwischen, denn im Morgengrauen würde er bereits wieder fort sein, wie es früher jedes mal der Fall war. Drei Unteroffiziere und Demidow - der frühere Hauptmann, jetzt ein einfacher Hiwi – fuhren mit Gorew los. Es war auch allerhand, dass sie sich entschlossen, in der Nacht zu fahren! Aber sie fühlten sich wahrscheinlich durch das Beispiel des V-Mannes beschämt.

Gorew ließ das Auto von einer leichten Erhöhung mit abgestelltem Motor, ohne Licht leise ins Dorf hineinrollen. Der V-Mann bezeichnete die betreffende Kate, sprang ab und verschwand. Sie umstellten die Kate, ein Unteroffizier und Demidow klopften herrisch an und verlangten Einlass, die Waffen schussbereit. Kurz darauf rief der Unteroffizier alle anderen hinein. Eine Ölfunzel spendete schwaches Licht. Zwei Mädchen, nicht viel über Zwanzig, in hastig übergeworfenen Kleidern - man sah nur geringen Altersunterschied und große Ähnlichkeit - und ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann in Bauernzivil standen an einer Stubenwand. Demidow hielt sein Gewehr auf sie gerichtet. Die übrigen durchsuchten die Kate. Sie fanden nichts Verdächtiges und keine Waffen. Der Mann hatte auch bei sich nichts Nennenswertes. Demidow tastete die Mädchen ebenfalls gewissenhaft ab, fuhr mit den Fingern durch das Kopfhaar, scheute sich nicht, die verborgendsten Stellen unsanft abzufühlen. Dann ging er zum Verhör über.

Die Unteroffiziere und Gorew überließen ihm stillschweigend das Handeln, Gorew beschränkte sich auf die Rolle des Dolmetschers, übersetzte den Deutschen, wenn es etwas zu übersetzen gab. Demidow nahm den Mann vor. – „Wer bist du? Wo kommst du her?" Das ältere Mädchen sprang ein: - "Das ist mein Bräutigam aus dem nächsten Dorf und er kommt mich besuchen.“ Der Mann bestätigte diese Aussage, aber seine Aussprache verriet, dass er niemals ein Bauer aus dieser Gegend war. – „So kommen wir nicht weiter,“ – meinte Demidow leise, - „er wird in Anwesenheit der Mädchen einen Helden spielen und nichts verraten. Wir müssen sie trennen.“

Sie nahmen den Mann in die andere Stube, schlossen die Verbindungstüre. Ein Unteroffizier blieb als Bewachung bei den Mädchen. Demidow versetzte dem Mann mehrere schmerzhafte Hiebe, versuchte immer wieder, aus ihm etwas herauszuholen. Dieser blieb hartnäckig bei seiner ersten Behauptung, obwohl er die Hoffnungslosigkeit des Versuches einsehen musste. Inzwischen wurde es heller Tag. Demidow stieß den Mann in die andere Stube, holte die ältere herein, befahl ihr, sich in die Mitte des Zimmers zu stellen, betrachtete sie überlegend. – „Ziehe dich aus!“ - bellte er sie an. Verständnislos starrte sie ihn an. – „Na! Hop, hop! Herunter mit der Kleidung, sonst bringe ich dir die Eile bei!“ Zögernd zog sie das Kleid über den Kopf ab. – „Auch das Hemd! Alles herunter!“ Befremdet schaute Gorew zu. Wollte Demidow etwa das Mädchen vergewaltigen?... Sie sah nicht schlecht aus, hatte ein hübsches, regelmäßiges Gesicht, dunkle Augen funkelten trotzig, die ärmliche Kleidung versteckte nicht ihre vollendet schöne Figur... Nein, das wollte Gorew auf keinen Fall zulassen!

Auch die Deutschen werden es wahrscheinlich nicht dulden. Aber vielleicht wollte Demidow ihr nur Angst machen... Einstweilen ließen sie ihn gewähren. Splitternackt stand das Mädchen in der Mitte der Männer, versuchte hilflos, ihre Nacktheit vor ihnen mit den Händen zu verdecken. – „Weg mit den Händen! Lass sie herunterhängen! Strammstehen!“ Die Arme gehorchte, der trotzige Blick war verschwunden, gehetzt schaute sie sich um, senkte den Kopf, richtete ihre Augen, vor Scham errötend, auf den Boden. – „Blicke mich an!.. Wer ist der Bursche?“ – „Ein Kurier der OUN“ – schluchzte sie, knickte zusammen, krümmte sich auf dem Boden, versuchte, gleichzeitig jeden Teil ihres Körpers vor den Blicken zu schützen. – „Steh auf, ziehe dich an, wir werden uns abwenden“ – sagte Demidow begütigend. Als sie angezogen war, wandte er sich wieder zu ihr, sprach jetzt mit ruhiger Stimme: - „Was ist OUN?“ – „Organisation Ukrainischer Nationalisten. Sie wollen eine freie, unabhängige, selbstständige Ukraine. Sie kämpfen gegen die Russen, die unser Land unterdrücken, uns fremden Kommunismus aufzwingen. Aber deutsche Herrschaft wollen sie auch nicht. Wir Ukrainer wollen frei und selbstständig sein.“... Sie konnte nichts weiter angeben, keine Verbindungsleute nennen, keine Einzelheiten. Sie wusste nichts mehr. – „Gehe zu deiner Schwester.“

Als sie hinaus war erklärte Demidow: „Die Frauen sind nicht so empfindlich gegen Schmerz wie die Männer. Meistens bringt man durch körperliche Qual nichts aus ihnen heraus. Außerdem widerstrebt es einem, eine Frau zu schlagen. Wenn sie aber nackt vor den Männern steht, fühlt sie sich ganz entblößt, nicht nur körperlich, sondern ihre ganze Seele, ihre geheimsten Gedanken und Regungen. Sie kann einfach nichts mehr verbergen... Hat jemand schon was von dieser OUN gehört? Ich nicht.“ – „Doch,“ - sagte ein Unteroffizier auf Gorews Frage, - "wir wissen einiges davon... Aber ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen. Wir nehmen den Mann mit. Die Mädchen... lassen wir vielleicht laufen?“ – blickte er fragend den anderen Unteroffizier an. – „Sie können nichts dafür, wenn ein Mann sich bei ihnen eine Beherbergung erzwingt..." – „Mir ist es recht. Ich habe es schon lange satt, gegen Frauen vorzugehen.“

Bei dem Verhör im GFP-Gebäude kam nicht viel heraus. Der Verhaftete gab zu, dass er für die OUN gearbeitet hat, weigerte sich aber standhaft, irgendetwas zu verraten. – „Was wollt ihr von mir! Unsere Führer, vor allem Stephan Bandera, haben euch Deutschen eine Allianz angeboten, und ihr habt ihn eingesperrt, in eurer Überheblichkeit. Damit habt ihr selber euch zu unseren Feinden erklärt, obwohl wir eine Freundschaft mit euch suchten. Und trotzdem gehen wir zur Zeit nicht gegen euch vor, weil ihr gegen unseren gefährlicheren Feind, gegen die Russen, gegen die Kommunisten im Kampfe steht. Wir unterstützen euch sogar indirekt, indem wir die Roten vernichten, wo wir mit ihnen in Berührung kommen.“ Die Deutschen gaben bald die Versuche auf, aus ihm die Angaben über seine Verbindungen, Verbindungsleute, Treffpunkte herauszupressen. Die vernehmenden Unteroffiziere winkten den Hiwi-Brüdern, die ihn mit ihren Nagajkas böse zugerichtet hatten, von ihm abzulassen und ihn ins Gefängnis abzuliefern.

Gorew hatte niemals erlebt, dass die Deutschen bei der GFP die Verhafteten schlugen oder die Hiwis dazu ermunterten. Aber sie hielten die Hiwis auch nicht davon ab, wenn diese es taten, ließen sie stillschweigend gewähren, und mehr noch, ließen sie, wie es Gorew schien, zu diesem Zweck bei den Verhören anwesend sein, nur dem Schein nach bloß als Wächter. Er missbilligte zwar im stillen dieses Vorgehen, erhob selbst auch nie seine Hand gegen einen Wehrlosen, war aber im übrigen durch das viele Blutvergießen, das er miterlebte, durch die Grausamkeit des ganzen Geschehens abgestumpft, brachte es nicht zustande, sich darüber aufzuregen. Umso mehr, als er der GFP keine Unkorrektheiten sonst nachsagen konnte. Nur wurde er des Ganzen mehr und mehr müde, würde viel lieber an der Front stehen, als das hier Tag für Tag mit anzusehen.

Gorew ging ins Gefängnis, ließ die Polizisten-Wächter ihm den Gefangenen ins Vernehmungszimmer bei dem Gefängnis vorführen und blieb mit ihm allein. Er sprach ihn jetzt ukrainisch an - sonst verwendete er Russisch. - "Ich spreche mit Ihnen nicht in deutschem Auftrag, sie wissen nicht von diesem Gespräch. Ich will für mich privat einige Erläuterungen. Wie Sie aus meiner Sprache hören bin ich selbst ein Ukrainer - ein Nichtukrainer kann unsere Sprache niemals so akzentfrei sprechen. Helfen kann ich Ihnen nicht, das möchte ich von vorneherein klarstellen... es sei denn, Sie überzeugen mich von Ihrer Sache so, dass ich mir sage, sie wäre es wert, mit Ihnen zusammen von den Deutschen zu fliehen.

Sie wollen Ukraine frei von den Sowjets und frei von den Deutschen sehen. Das ist sehr schön, wäre auch mein sehnlicher Wunsch. Aber wie wollen Sie das erreichen?“

- "Unsere Führer haben den Deutschen am Anfang des Krieges ein Bündnis vorgeschlagen. Wir wollten ihnen gegen die Sowjets mit allen Kräften helfen, große ukrainische Armee aufstellen. Sie sollten sich dann mit Eroberung Russlands begnügen und der Ukraine Selbständigkeit zusichern. Wenn sie darauf eingegangen wären, wäre der Krieg schon längst zu ihren Gunsten beendet."

- "Das will ich nicht bezweifeln. Sie sind aber nicht darauf eingegangen. Was nun?“

- „Sie werden von den Russen aus der Ukraine vertrieben. Die Russen verbluten dabei. Inzwischen organisieren wir heimlich unsere Armee. Wenn es so weit ist, erheben wir die ganze Bevölkerung gegen die Russen und erklären Ukraine selbständig. Schließlich ist die Gesamtukraine größer als Deutschland, wesentlich größer als mancher andere europäische Staat! Die Russen haben bereits selbst den östlichen, unter russischer Herrschaft stehenden, und den westlichen Teil, der unter Polen war, vereinigt. Es bleibt nur noch, die restlichen Teile, die Karpatenukraine, anzuschließen. Wir werden nur den früheren historischen Zustand wiederherstellen, unsere frühere Unabhängigkeit zurückfordern. Die anderen Staaten müssen uns anerkennen, uns gegen die Russen unterstützen. Vor allem England.“

- "Schöner Traum. Nur hat es mit den anderen Staaten großen Haken in sich. Ist England nicht ganz feste Verpflichtungen Polen gegenüber eingegangen? Jetzt steht es im Bund mit den Sowjets, die ein gutes Stück Polens mit Waffengewalt annektierten..."

- „Was reden Sie von einem Stück Polens! Und Sie sind ein Ukrainer! Ein Stück Ukraine haben sie besetzt, das vorübergehend die Polen in ihrer Gewalt hatten...“

- "Gut, einverstanden. Aber wird England die Sowjets daran hindern, sich ganz Polen einzuverleiben? Nicht im geringsten! Wenn es jetzt gegen die Deutschen auftritt, so nur deshalb, weil es in seinen Kram passt, und nicht wegen Polens. Und ist euere künftige ukrainische Armee nicht nur ein Traum?... Übrigens, warum nennen Sie die Russen Feinde? Verwechseln Sie nicht die Russen und die Sowjets?"

- „Die Russen haben unsere Ukraine unterdrückt, diese Moskali haben uns auch die Sowjets aufgezwungen. Die Russen unterdrücken uns in einem Teil unseres Landes, die Polen in dem anderen. Wir müssen gegen beide kämpfen.“

- „Sie nehmen sich viel vor. Auch gegen die Deutschen wollen Sie vorgehen. Womit denn das alles?“

- "Haben Sie noch nicht von der UPA gehört?“

- „Nein. Was ist das wieder?“

- „Das ist unsere Armee. Ukrainische Erhebungsarmee. Zur Zeit noch geheim, getarnt. Aber sie existiert. Sie führt zur Zeit eine Partisanen-Existenz, wird von den Deutschen verfolgt, obwohl sie ihnen nichts antut, und hauptsächlich von den Russen und von den Polen. Im östlichen Teil der Ukraine gibt es in den Wäldern Schlachten zwischen uns und roten Partisanen, wenn wir aufeinander treffen, im westlichen Teil zwischen uns und polnischen Partisanen. Den Deutschen weichen wir aus. Die Deutschen haben ukrainische Galizien-Divisionen, die zur gegebenen Zeit zu uns, zur UPA gehören werden. Wir unterstützen sie, halten mit ihnen feste Verbindung. Die Deutschen wissen es und misstrauen ihnen. Ohne Grund, denn sie werden nicht gegen die Deutschen auftreten und sind einsatzbereit gegen die Russen, wenn die Deutschen sie einsetzen würden. In den Teilen der Ukraine, die durch die Russen von den Deutschen wieder zurückerobert werden, tritt unsere UPA sofort automatisch in Tätigkeit und fügt den Russen Schaden zu, von hinten. Wenn die Deutschen aus der ganzen Ukraine vertrieben sind, wird sich das ganze ukrainische Volk erheben und die abgeschwächten Russen verjagen..."

Ein Träumer, - dachte Gorew, - aber er hat eine Idee und ist bereit, für sie zu sterben. Ein schönes Ideal, leider nur ein Traum. Scheinbar gibt es wirklich mehr von der Sorte. Meine Hochachtung!..

Er führte ein langes Gespräch mit dem Unteroffizier, der die Sache in der Hand hatte. Zum Schluss sagte dieser – „Es widerspricht nicht unseren Anweisungen hinsichtlich der OUN-Leute, wenn wir ihn am Leben lassen. Ich werde die Angelegenheit dem Sekretär entsprechend vortragen.“ Der Mann wurde in ein Lager abtransportiert.

Vadim Grom: Der Weg vom Don zur Isar, AnderweltVerlag,

ISBN 978-3-940321-12-1/ 978-3-940321-15-2

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