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Olympiadach von München:  menschliches Pendant zu den Bauwerken der genialen Natur

Myzel, Wabe, Netz – die Körpersprache der Natur im Bauwerk

Hans-Jörg Müllenmeister  

Die Natur spricht zu uns in Architekturen, die mehr sind als bloße Form: Ihre Bauwerke sind Metaphern in Stein, Chitin und Zellulose. Schon Mikroben errichten uneinnehmbare Festungen – Biofilme, winzige Burgen voller Leben.

Im Waldboden spinnt das fadenförmige Pilzgeflecht, die Hyphen, ein unsichtbares Nachrichten­netz, das Pflanzen­wurzeln umarmt wie Drähte in einem riesigen „biologischen Wood Wide Web“. Bienenwaben, Vogel­nester oder Fisch­brutplätze aus Sand und Kies erzählen von evolutionärer Baukunst, die Funktion, Umwelt und Gemeinschaft in eine untrennbare Einheit gießt. Wir können von diesen Baumeistern lernen, wie man Überleben und intelligente Zweckmäßigkeit in menschliche Architektur übersetzt. 

Jenseits des Sichtbaren – das Myzel als Urform des Bauens 

Bevor das Auge Waben­-Architekturen bewundert, liegt das wahre Wunder verborgen im Myzel, jenem filigranen Netzwerk, das unter der Erdoberfläche pulsiert. Die Hyphen verbinden sich zu lebenden Leitungen, in denen elektrische Impulse fließen wie Neuronen-Signale; ein schweigsames Fundament, das keine Mauer errichtet, sondern Beziehungen knüpft und vernetzt. Chemische Düfte aus der Umgebung locken oder warnen das Myzel: Nährstoffe und Stoffwechsel­produkte anderer Organismen geraten „zollfrei“ in einem Tauschhandel für Zucker. Ohne Gehirn organisiert sich das Netzwerk selbst, verteilt Ressourcen effizient und trifft Entscheidungen, wohin es weiter wächst. Ein Sinnbild dafür ist das gigantische Myzel des Hallimasch in Oregons Wäldern – neun Quadratkilometer reines Lebendig­sein, die größte Organismuseinheit der Erde.

Das Myzel nutzt eine hybride Kommunikation: biochemische Signale für lokale Präzision, elektrische Impulse für schnelle, systemweite Warnungen und Koordination. Wie ein biologischer Schaltkreis lernt es aus Umwelt­reizen, speichert Informationen und reagiert adaptiv auf Gefahr oder Chance. Diese Urform des Bauens zeigt uns, wie Architektur mehr sein kann als statische Konstruktion: sie lebt, atmet und reagiert. 

Biofilme – „Nestbau“ auf molekularer Ebene 

In der Welt der Einzeller sind Biofilme keine chaotischen Schleimhaufen, sondern hochkomplexe Mikro­burgen. Winzige Kanäle leiten Nährstoffe, spezialisierte Zonen managen Stoffwechsel­-Aktivität, und Phasen des Wachstums folgen einem präzisen Zeitplan. An Oberflächen – von Gestein über medizinische Implantate bis zum menschlichen Darm­mikrobiom – verankert, umhüllt sie eine Matrix aus Polysacchariden, Proteinen, Lipiden und freier DNA. Dieses selbstgeschaffene Gerüst schützt vor Antibiotika (bis zu tausendfach resistenter als Einzelzellen), Immun­abwehr, UV-Strahlung, pH-Schwankungen und Trockenheit. Aus dem scheinbaren Chaos erwächst eine Gemeinschaft, die durch molekulare Nestbau­kunst erstaunliche Widerstandskraft entwickelt. 

Geniale Baumeister unter Wasser 

Unter der Wasseroberfläche tobt eine stille Baukunst, die uns in Kindheitserinnerungen und Forscherstaunen zugleich taucht. Im Eifelbach der Urft entdeckten wir einst jene röhrenförmigen Köcherfliegenlarven, die ihr mobiles Heim Schritt für Schritt über den Gewässergrund ziehen – ein untergetauchtes Wohnmobil, kunstvoll aus Sand, Steinchen und Pflanzenteilen gefügt und mit Spinnen­drüsen-Sekret zu einer unzerstörbaren Trotzburg verklebt. 

Die mobilen Architekten: Köcherfliegenlarven 

Jedes Teil ihres Köchers wählen die Larven mit einer Präzision aus, die an ein Mosaik-Atelier erinnert. Gleichzeitig tarnen sie sich, wehren Fressfeinde ab und bewegen ihr schützendes Gehäuse geschickt durch Strömungen und Verborgenheit. Monate vergehen, bis nach mehrmaligem Häuten und der Verpuppung ein letzter Aufstieg an Land folgt – nur um als fliegende Köcher­fliege ein kurzes Leben in der Luft zu beginnen. 

Fischige Nestbaumeister 

Stichlinge weben am Grund ähnlich filigrane Architekturen: Sie sammeln Pflanzenfragmente und Steinchen, kleben sie mit eigenem Sekret zu Nestkomplexen zusammen und schaffen so aquatische Rückzugsorte für ihre Brut.

Im Malawi-See errichten Buntbarsch-Männchen Sandburgen oder kraterförmige Reviere, um wählerische Weibchen zu beeindrucken. Manche markieren ihr Territorium zudem mit aufgepflasterten Steinreihen.

Ein Kaleidoskop der Perfektion liefert indes der japanische Kugelfisch. Mit Flossen-Bewegungen formt er kreisrunde Sand-Mandalas von bis zu zwei Metern Durchmesser. In der Mitte platziert er kleine Steine als Kokon für seine Eier – ein Kunstwerk, das Brutstätte und Balzplatz in einem ist. 

Luftige Baukunst der Labyrinthfische 

Während unten am Meeresgrund riesige Sandstrukturen entstehen, weben Kampffische an der Oberfläche ihre Schaumnester. Aus Luftbläschen und Speichel komponieren sie filigrane Architekturen, die ihren Nachwuchs tragen und zugleich den Kampf um die besten Revierränge entscheiden.

Netz der Kreuzspinne

Spinnen – die filigranen Baumeister 

Die Netze der Spinnen sind filigrane Alleskönner: Jagdfalle, Schutzraum und Brutstätte zugleich. Anstelle von Nestern weben sie filigrane Netze, die in ihrer Form und Funktion Staunen hervorrufen. Sechsbeinige Insekten können da nicht mithalten – acht Beine und mehrere Spinndrüsen verleihen Spinnen die Macht, ganze Welten aus Seide zu erschaffen. Jede Faser, perfekt platziert, erzählt von evolutionärer Raffinesse und architektonischer Präzision. 

Die architektonische Vielfalt der Netze 

Das Radnetz der Kreuzspinne ordnet konzentrische Kreise und Speichen zu einem geometrischen Wunderwerk. Zitterspinnen hinterlassen scheinbar chaotische Kugelnetze, deren Unordnung tödliche Effizienz verbirgt. Trichternetze gleichen flachen Seidenteppichen mit trichterförmigen Rückzugsorten, wie sie die hochgiftige Sydney-Trichternetzspinne baut. Überall webt sich die fadenfeine Poesie funktionaler Schönheit durchs Geäst und Gras. 

Spinnenseide – das Wundermaterial 

Spinnenseide ist stärker als ein gleichdicker Stahldraht und dehnbarer als Gummi: sie reißt erst bei einer Dehnung über 40%, während Stahl schon bei etwa 8% kapituliert. Die Darwin-Borkenspinne spannt Netze mit über 25 Metern Spannweite – das größte Einzelnetz der Welt. Soziale Netzbau-Arten legen Netzverbände von bis zu 180 Metern aus, bedeckt bis zu 2,8 Quadratmeter. In diesem fadenfeinen Material übertrifft die Natur jede Kunstfaser, weil sie Stabilität und Elastizität in einer einzigen Faser verwebt. 

Biber: Landschaftsarchitekten der Natur 

Biber bauen ihre Burgen aus Ästen, Zweigen und Schlamm in flachen Uferbereichen mit versteckten Unterwassereingängen. Der Wohnkessel im Inneren dient als Schlafplatz, Vorratskammer und Aufzuchtsraum für den Nachwuchs. Durch Dämme verwandeln sie fließende Bäche in Teiche und Sumpf­landschaften, fördern artenreiche Vegetation und bieten neuen Lebensraum für Amphibien, Fische und seltene Pflanzen. Diese Dämme verlangsamen Wasserabfluss um das Hundertfache, fangen Schwebstoffe und reinigen das Wasser wie biologische Kläranlagen. 

Mörtelkünstler an Gartenwänden: Schwalben und Wespen 

Mehlschwalben kneten Lehmkügelchen mit Speichel zu stabilen Lehmnestern an Hauswänden, die wie hängende Amphoren wirken. Wespen zermahlen Holzfasern, vermischen sie mit Speichel zu papierartigen Pappen und bauen daraus kunstvolle, gewölbte Nester. Beide nutzen organischen Zement, um raue Flächen in sichere Zufluchtsorte für ihre Brut zu verwandeln. Welch eine Meisterleistung, wenn aus Matsch und Fasergeröll tragfähige Wohnbereiche entstehen! 

Bienenwaben vom Feinsten 

Bevor ein Sonnenstrahl das goldene Innere einer Bienenwabe erleuchtet, sind im Verborgenen winzige Ingenieurinnen am Werk. Aus Drüsen am Hinterleib gewinnen die Arbeiterinnen geschmeidiges Wachs, das sie zu weichen Plättchen kneten und zu Röhren formen. Erst im gemeinsamen Tanz, im harmonischen Zusammenspiel, verwandeln sich diese Rohlinge in perfekte Sechsecke – keine Laune des Zufalls, sondern das Resultat präziser Konstruktion. 

Meisterhafte Sechsecke. Jedes Sechseck füllt lückenlos den Raum zwischen seinen Nachbarn. Diese Form spart Material und bietet zugleich maximale Stabilität – ideal für schwere Honigvorräte und zarte Brut. Während das Wachs duftet, kneten Bienen die Kanten nach, modellieren Winkel und Oberflächen. Es ist Natur-Ingenieurskunst in Reinkultur mit minimalem Aufwand bei maximale Wirkung. 

Synchronisierte Bauharmonie. Obwohl Hunderte von Baubienen gleichzeitig werkeln, entsteht ein einheitliches Wabenmuster. Mit ihren Antennen und Beinen messen die Tiere Zelle um Zelle, passen Kanten millimetergenau an. Pheromone und Vibrationen fungieren als unsichtbare Baupläne, ein kollektiver Instinkt, fein abgestimmt über Generationen. Jede fertige Zelle wird zur Schablone für die nächste – so wächst das Kunstwerk in organischer Perfektion. 

Webervögel flechten kunstvolle Hänge-Nester 

In den hohen Zweigen der Akazie thronen Gemeinschaftsgebilde, die an filigrane Hochhäuser erinnern. Siedlerweber weben tausende Fasern zu gewaltigen Hänge­nest-Systemen, die Hunderte von Vögeln schützen. Jedes Brutloch ist eine individuelle Kammer, eingeflochten in einen gewölbten Riesenbau – Belüftung, Schutz und Nachbarschaft in einem. 

Termitenhügel mit natürlicher Klimaanlage 

Aus Erde, Pflanzenresten, Speichel und Kot errichten Termiten filigrane Befestigungen, die im Inneren einem Labyrinth aus Gängen und Luftschächten gleichen. Wärme und Kohlendioxid steigen durch Kamine empor, kühle Frischluft strömt nach – ein atmender Organismus aus Lehm. Ohne moderne Technik reguliert dieses Wunderwerk Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffversorgung. 

Termitenhügel als atmende Organismen. Die Termitenhügel wirken wie lebendige Klimaanlagen: Aus Erde, zerkautem Pflanzenmaterial, Speichel und Kot errichten die Insekten ein hochkomplexes Netzwerk aus Gängen und Schächten, das Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffgehalt selbst reguliert.

Thermischer Kamin­effekt. Tagsüber erwärmt die Sonne die Hügelaußenwände, die innere Luft wird leichter und steigt durch zentrale Schornsteine nach oben.

In den Nacht­stunden: Die Abkühlung an der Oberfläche lässt die warme Innenluft absinken, kühlere Frischluft strömt von unten nach.

Die Außenhaut aus dichtem Lehm speichert Wärme, schützt vor direkter Sonneneinstrahlung und minimiert unkontrollierte Luftverluste. Das feinporige Innengerüst aus organischem Material ermöglicht kontrollierten Gasaustausch dank Kapillarwirkung und Diffusion.

Innerhalb eines Tageszyklus entsteht ein rhythmischer Luftstrom: Gefilterte CO2-reiche „Altlüfte“ weichen sauerstoffreicher Außenluft. Das Mikroklima in Brutkammern bleiben selbst bei großen Außentemperatur-Schwankungen stabil.

Die Gänge verzweigen sich in immer feinere Äste (Fraktale), ähnlich wie bei Blättern oder Myzel: großräumige Hauptschächte für den schnellen Lufttransport, feine Kapillaren für punktgenaue Belüftung. Diese Hierarchie erlaubt eine adaptive Anpassung: Bei Hitze öffnen sich Ventilationspfeiler, bei Kälte verschließen sich feine Poren.

Biomimikry und Architekturimpulse. Termitenhügel zeigen, wie passive Klima­kontrolle ohne technische Geräte funktioniert. Ihre Prinzipien inspirieren moderne Architekten zu: Fassade mit variabler Porosität für Tages- und Nacht­klimatisierung, thermische Kamine in Gebäuden, die natürliche Konvektion nutzen, fraktale Verzweigungs­strukturen für effiziente Luftverteilung. 

Erstaunliches über Termiten und Metamorphose. Obwohl jede Arbeiterin kaum ein Gramm wiegt, errichten Abermillionen dieser Minibaumeister Monumente, die ganze Landschaften prägen. Im Zentrum waltet die Termiten­königin, das langlebigste Insekt der Welt: zwischen 25 und 50 Jahre steuert sie das kollektive Gedächtnis und zeugt ununterbrochen neue Generationen. 

Bauplan nach dem Verdunstungsmuster. Der Schlüssel zum termiten­spezifischen Bauprogramm liegt nicht allein in Pheromonen, sondern im Verdunstungstakt ihrer Umgebung. An den am stärksten gekrümmten Lehmflächen kondensiert oder verdunstet Wasser in besonderer Intensität. Darauf reagiert das Volk: Unebenheiten wachsen zu Säulen, Säulen verzweigen sich, und aus Verzweigungen formen sich verzweigte Gänge und Kammern. So entstehen ohne Masterplan doch komplexe Labyrinthe. 

Zehntausendjährige Lehm-Monumente. Manche Hügel werden von neuen Kolonien wiederbesiedelt und überdauern Generationen. In Namaqualand, Südafrika, messen Forscher Termitenbauten mit einem Alter von rund 34.000 Jahren – uralte Lehmskulpturen, die den Lauf der Zeit still beobachten, siebenmal länger als die Ägyptischen Pyramiden! 

Schmetterlingskokon: Das Drama der Metamorphose 

Der Kokon ist kein sanftes Ruhekissen, sondern ein Kreißsaal der Transformation. Im Inneren löst sich die Raupe zu einem zellulären Brei auf, aus dem völlig neue Bausteine heranwachsen. Diese Zellen fügen sich zu Flügeln, Antennen und Tragflächen – bis ein grazil geflügeltes Wesen den Kokon sprengt und in die Welt hinausschwebt. Dieses Schauspiel symbolisiert Wandel, Neubeginn und die Kraft radikaler Erneuerung. 

Evolutionäre Impulse für unsere Architektur 

Die Welt der Insektenbaumeister offenbart uns minimaler Materialeinsatz, maximale Funktionalität und Ästhetik, lebendige Klimakontrolle und Langlebigkeit ohne Wartung. In der Baubionik übertragen, werden diese Prinzipien in Fassaden mit variabler Porosität, passive Lüftungssysteme und selbstregulierende Strukturen eingesetzt. 

Einfach genial: Das Olympiadach in München 

Naturprinzipien angewendet in Stahl und Glas 

Die Dachlandschaft der Olympischen Spiele 1972 ist ein Meisterwerk der Ingenieurkunst. Sie vereint drei biologische Vorbilder in einer Konstruktion.

Myzel – vernetzte Leichtbauweise, 
Spinnennetz – spannungsoptimiert und transparent, 
Bienenwabe – modular, effizient und elegant. 

Kurz zur Konstruktion  

Eine Seilnetz-Dachlandschaft von 74 800 Quadratmeter, getragen von bis zu 80 m hohe Stahlmasten und verkleidet mit dünnen Acrylglasplatten. Diese Leichtbauweise erzeugt eine filigrane Transparenz, die das Gelände öffnet und zugleich Schutz bietet – ein architektonisches Gedicht aus Licht und Leichtigkeit. 

Seifenhaut-Experimente und Minimalflächen 

Die Konstrukteure tauchten Drahtgestelle in Seifenlauge, um auf  natürliche Weise jene Form zu finden, die mit minimalem Materialaufwand maximale Stabilität liefert. Tausende Modelle wurden so spielerisch erprobt, bis die optimale Form gefunden war. Darauf folgte die angewandte Mathematik: Differentialgleichungen zur Beschreibung sogenannter Minimalflächen. 

Kleine Anregung: Bauen Sie Ihr eigenes Seifenhaut-Labor 

Füllen Sie dazu eine Schüssel mit Wasser, geben Sie einen kräftigen Schuss Spülmittel hinzu, formen Sie einen Draht zu einem geschlossenen Gebilde, tauchen Sie ihn ein – und beim Herausziehen sanft durchblasen.

Sie beobachten dann schillernde, minimal entstandene Flächen – ganz ohne höhere Mathematik. Diese Experimente zeigen, wie spielerisch und visuell die Suche nach der idealen Form sein kann. Erstaunlich: Seifenhautgebilde sind der Mathematik unkundig – und doch geniale Formfinder.

Zitat des Philosophen  R.W. Emerson:

„Ahme den Gang der Natur nach. Ihr Geheimnis ist Geduld.“

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