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TTIP und die Spätfolgen der „amerikanischen Krankheit“

Von Peter Haisenko 

Wie üblich ist die Diskussion um das Handelsabkommen TTIP geschickt auf unwichtige Nebenaspekte gelenkt worden. Das „Chlor-Huhn“ wird strapaziert und dabei übersehen, wie fundamental die Unterschiede zwischen der europäischen Denkstruktur und der amerikanischen sind. Ängste um den Bestand von bestehenden Standards beherrschen das Denken und niemand denkt an die Zukunft. Dabei heißt die wirklich spannende Frage: Können nach TTIP überhaupt noch neue Standards gesetzt werden?

In den USA gilt: Ein neues Produkt darf auf den Markt, wenn nicht nachgewiesen worden ist, dass es schädlich sein könnte. Die Europäer machen das genaue Gegenteil: Ein neues Produkt darf nur auf den Markt, wenn nachgewiesen ist, dass es keine schädlichen Nebenwirkungen hat. Der Unterschied ist fundamental und so müsste bereits hier die Frage gestellt werden, ob es überhaupt sinnvoll sein kann, zwei Gesellschaften mit derart differierenden Philosophien unter einen gemeinsamen Deckel zu zwingen.

Bestehende Standards werden festgenagelt

Die Hauptforderungen der Europäer an TTIP betreffen den Erhalt von bestehenden Standards. Wir wissen, wie schwierig es ist, Einigkeit unter den 28 Staaten der EU herzustellen, wenn es um neue Standards geht. Vor allem dann, wenn wirtschaftliche Interessen berührt werden. Mit TTIP werden bestehende Standards transatlantisch festgenagelt. Wenn nach Abschluss dieses Abkommens Standards weiter entwickelt werden sollen, werden diese auf die Zustimmung der USA angewiesen sein. Europäisch-nationale Standards sind dann praktisch nicht mehr möglich, denn diese können sofort von einzelnen Konzernen auf dem Klageweg vor einem privaten Schiedsgericht ausgehebelt werden. Nicht nur das.

Glaubt denn irgendjemand, dass es US-Lobbyisten zulassen werden, einen neuen Standard einzuführen, der möglicherweise einer Gewinnmaximierung entgegensteht? Ich sage voraus, dass mit der Unterschrift unter den TTIP-Vertrag jegliche Entwicklung von Standards zu Gunsten der Verbraucher beendet sein wird. Das betrifft alle Bereiche – vom Mindestlohn über Umweltschutz bis zu Sozialstandards. Mit TTIP verhält es sich wie mit der Politik im Allgemeinen: Es fehlt jegliche Zukunftsperspektive. Man könnte das auch als „amerikanische Krankheit“ bezeichnen.

Erhalt des Status quo statt Weiterentwicklung

Spätestens seit den frühen 1970er Jahren ist die US-Politik nur noch damit beschäftigt, ihren Status zu erhalten. Den Status als Welt-Supermacht ebenso wie den allgemeinen (niedrigen) Standard, was Infrastruktur und Verkehrsmittel anbelangt. Man mag es kaum glauben, aber in den USA werden immer noch Autos gebaut und auch noch verkauft, die mit einem Getriebe ausgestattet sind, das nur drei Gänge hat. Züge in der Qualität eines TGV, eines ICE oder gar Shinkansen sind in USA unbekannt. Auf niedrigste soziale Standards bzw. grassierende Armut in weiten Teilen der Bevölkerung will ich hier gar nicht weiter eingehen. Angesichts des Außenhandelsdefizits der USA und der damit drohenden weiteren Verarmung breiter Bevölkerungsschichten zielt die Politik Washingtons nicht etwa darauf ab, diese Missstände abzustellen. Nein, sie versucht nur mit immer untauglicheren Mitteln, diesen Status zu erhalten und hier reiht sich TTIP ein.

Mit TTIP werden die Europäer auf den perspektivlosen Zustand der USA heruntergezogen. Gleichzeitig soll – im Interesse der Amerikaner – gesichert werden, dass der europäische Überschuss an hochtechnologischen Produkten weiterhin gegen frisch gedruckte Dollar möglichst exklusiv in die zahlungsunfähigen USA abfließen werden. Der Status quo soll erhalten bleiben. Die zentrale Frage der Europäer zu TTIP sollte also sein: Wollen wir uns auch in Zukunft weiter entwickeln können, und zwar ohne die ausdrückliche Erlaubnis der USA? Wer das mit ja beantworten will, der kann TTIP nur entschieden ablehnen. Aber Fragestellungen in dieser Eindeutigkeit werden in den Leitmedien nicht kommuniziert.

Das Ablenkungsmanöver des Sigmar Gabriel

Stattdessen müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die SPD mit ihrem Vorsitzenden Gabriel jede Zukunftsperspektive bereits aufgegeben hat. Dort ist man offensichtlich mit dem Status „20 Prozent plus X“ zufrieden und will diesen erhalten. Anders ist nicht zu erklären, wie der Vorsitzende Gabriel seinen Souverän, den Wähler, als „hysterisch“ bezeichnen kann, was seine Haltung zu TTIP anlangt. So geschehen im Februar 2015 während einer Konferenz in der Schweiz. Das ist an sich ein Skandal, der den sofortigen Rücktritt verlangt hätte. Vergessen wir nicht: Wenn Mutti etwas zustößt, dann wird die Biomülltonne der SPD unser Kanzler sein. Angesichts eines solchen Szenarios bin dann auch ich der Meinung, dass es besser ist, den Status quo zu erhalten – aber ohne TTIP!

Auf die von amerikanischer Seite gewollten, demokratieverachtenden privaten Schiedsgerichte wollte ich hier eigentlich nicht explizit eingehen. Aktuelle Statements von Herrn Gabriel zwingen mich nun doch, es zu tun. Unser Wirtschaftsminister hat jetzt einen neuen Dreh erfunden, um diese Schiedsgerichte den Europäern doch noch schmackhaft zu machen. Es soll ein fest installiertes Gericht geben, das, paritätisch besetzt, über Klagen von Konzernen gegen Staaten richten soll. Auch das ist wieder ein gezieltes Ablenkungsmanöver vom eigentlichen Thema, das da lautet: Zivilisierte Staaten brauchen keine extra Gerichtsbarkeiten für ausländische Investoren. Wozu dann ein Schiedsgericht für TTIP? Dazu ein Blick in die Geschichte.

Überflüssige Instanz für etablierte Rechtsstaaten

Bereits seit den 1950er Jahren gibt es private Schiedsgerichte in der Art, wie sie TTIP für Europa jetzt schaffen will. Diese Institutionen sollen Investitionssicherheit für ausländische Investoren in Staaten schaffen, deren Rechtssicherheit und vor allem Rechtskontinuität nicht vertraut wird. Das gilt vor allem für afrikanische Staaten. Wir wissen, dass diese „Gerichte“ in über 90 Prozent der Klagefälle zu Gunsten der privaten Kläger entschieden haben. Aber das nur nebenbei.

Für die stabilen westlichen Staaten, die ja Rechtsstaaten sein sollen und wollen sind derartige Rechtskonstrukte, völlig überflüssig. Das ist der Punkt! Wer Recht sucht, kann dieses vor ordentlichen (nationalen) Gerichten einklagen. Wer im Ausland investiert, muss sich grundsätzlich darüber klar sein, dass er sich damit dem Recht des Staates unterwirft, in dem er investiert. Inklusive des Risikos, dass in diesem Staat Gesetzesänderungen den Ertrag oder sogar den gesamten Erfolg seiner Investition vernichten können. Die USA selbst sind hier das beste (abschreckende) Beispiel.

Weltpolizist“ USA will die Spielregeln diktieren

Wer an die US-Börsen geht, um Aktien zu verkaufen, muss sich amerikanischem Recht unterwerfen. Ohne wenn und Aber. Da kann es schon mal passieren, dass ein seniler Richter in New York darüber entscheidet – siehe Argentinien – wie ein Land mit amerikanischen Hedgefonds umzugehen hat. Diesem Richter wird von US-Seite das Recht zugestanden, darüber zu entscheiden, ob Argentinien in die Pleite geht. US-Gerichte entscheiden darüber, ob empfindliche Strafen gegen nicht-US-Banken verhängt und tatsächlich durchgesetzt werden, die nicht einmal gegen UN-Beschlüsse verstoßen haben, sondern nur gegen einseitig von den USA verhängte Sanktionen, die im Mutterland der Bank nicht gelten. Das sind die USA, der „Weltpolizist“, der sich jedoch im Zweifelsfall selbst nicht an sein eigenes Recht hält, wenn es ihm opportun erscheint.

In diesem Zusammenhang frage ich mich, warum überhaupt noch irgendeine nicht-US-Aktiengesellschaft an eine amerikanische Börse geht. Wenn jemand zum Beispiel deutsche Aktien kaufen will, dann soll er das doch gefälligst an der Frankfurter Börse tun, selbstverständlich nach deutschem Recht und gegen Euro, nicht Dollar.

Die Gerichtsbarkeit in Europa ist völlig ausreichend

Europa braucht keine „überstaatlichen“ Gerichte. Wer der Meinung ist, dass er nach europäischem Recht benachteiligt worden ist, kann sich an den Europäischen Gerichtshof wenden. Es muss das Recht Europas bleiben, darüber zu befinden, welches Recht in welcher Form auf unserem Kontinent anzuwenden ist. Wer damit nicht einverstanden ist, der muss eben woanders investieren. Nicht anders machen es die USA. Wenn also Gabriel jetzt seine neue Missgeburt den Europäern vorstellt, dann bedeutet das nichts anderes, als dass er einer Gerichtsbarkeit das Wort redet, die europäisches Recht aushebeln kann – zu Gunsten nordamerikanischer Investoren.

In früheren Zeiten, als der Teufel noch ein kleiner Bub war, musste eine Firma, die sich im Ausland ungerecht behandelt fühlte, seine Regierung bitten, für ihn zu intervenieren. Die Entscheidung darüber hatte also schon einen nationalen Filter, der nationale Interessen über Individualinteressen gestellt hat. Wenn dann die Regierung zu dem Schluss gekommen ist, dass das Anliegen der Firma berechtigt ist, hat sie mit der anderen Regierung darüber gesprochen. War es unmöglich Konsens zwischen den Regierungen herzustellen, dann hieß die ultima ratio: Kriegserklärung. Diese höchste Eskalation war jedoch äußerst unwahrscheinlich und so waren die Firmen in aller Regel gezwungen, sich mit dem jeweiligen nationalen Recht zu arrangieren.

Das Primat der Politik würde verloren gehen

Die Schiedsgerichte, gleichgültig wie sie nun besetzt sein sollten, senken das Risiko für den Kläger gegen Null. Er kann jederzeit Klage einreichen, selbst wenn er damit gegen nationale Interessen handelt. Es gibt dann keine rechtmäßige Instanz mehr, die eine Privat- oder juristische Person von Handlungen abhalten könnte, die dem Interesse seines Heimatlandes zuwiderlaufen. Das Primat der Politik über private kommerzielle Interessen ist dann endgültig perdu. Nun, Herr Gabriel hat es ja gesagt, dass er seinen Souverän für hysterisch hält und angefügt, dass er TTIP schon durchsetzen wird. Das neuerlich von ihm vorgestellte Modell dient also nur seinem Ziel, dem Wahlvolk mit einem Trick vorzugaukeln, es möge ruhig weiterschlafen, denn diese Schiedsgerichte würden neutral sein. So neutral, wie die Troika in Athen die Interessen der Finanzwelt vertritt. Genau das brauchen europäische Rechtsstaaten nicht.

 

Wer mehr über die Aktionen des "Weltpolizisten" USA und seines britischen Vasalls während des 20. Jahrhunderts erfahren will, dem sei dieses Buch empfohlen: England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag hier.