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Die demokratische Alternative

Eine philosophische Systemkritik von Dr. Wolfgang Caspart 

Was tun, wenn unsere heutige Demokratie versagt? Muss unbedingt der „starke Mann“ her? Versagt denn wirklich die „Demokratie“, also wörtlich die „Volksherrschaft“ bzw. die „Selbstherrschaft der Beherrschten“? Oder sind nicht die wahren Schuldigen unser Parteiensystem, das Funktionärsunwesen, die neofeudale Oligarchie, das allumfassende Klientensystem, die demagogischen Wahlkämpfe und die gleißnerische Propaganda? 

Wer heute von „Demokratie“ spricht, meint im Guten wie im Schlechten unser Parteiensystem, die Repräsentativverfassung, das Funktionärswesen, die Interessenvertretungen, den Parlamentarismus, die Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsindustrie, Wahlkämpfe, Propaganda oder Demoskopie. Allenfalls wissen die Zeitgenossen noch, daß es im alten Athen die erste auch so genannte Demokratie gab und unter dem Aristokraten (!) Perikles zu ihrer Blüte kam. Schließlich geht ja der politische Begriff „Demokratie“ genauso wie „Monarchie“ (Herrschaft eines Einzelnen), „Aristokratie“ (Herrschaft der Besten), „Oligarchie“ (Herrschaft von Wenigen), „Plutokratie“ (Geldherrschaft) oder „Ochlokratie“ (Pöbelherrschaft) auf die alten Griechen zurück. Doch zwischen der athenischen Demokratie und unserer gegenwärtigen, ebenso genannten Staatsform liegen Welten! 

Wie funktionierte die athenische Demokratie? 

Wie die zeitgenössischen Demokratien funktionieren, wissen wir. Im antiken Athen gab es dagegen noch kein Parlament und wurde in einem Stadtstaat auch nicht benötigt. Nur wenige militärische Ränge wurden überhaupt gewählt (die zehn Strategen), mußten aber (nicht zuletzt über ihre persönlichen finanziellen Verhältnisse) Rechenschaft ablegen und waren jederzeit absetzbar. Alle übrigen Funktionäre (wie die Beamten und Geschworenen) wurden durch Los bestimmt! Der eigentliche Entscheidungsträger aber war und blieb auch tatsächlich die Volksversammlung, von der nicht nur sämtliche Gesetze beschlossen, sondern alle politischen Entscheidungen gefällt wurden. Selbstverständlich entschied sie alleine, ob Krieg erklärt oder Frieden geschlossen wurde. Um beschlussfähig zu sein, mußte die Volksversammlung von mindestens 6.000 Bürgern besucht werden (Kagan 1992). 

Wohl weniger gefällt uns heute, dass es keine Berufsrichter gab, die Geschworenengerichte äußerst kopfstark waren, und jedermann seine Sache selbst vor Gericht vertrat. Staatsanwälte existierten genausowenig, vielmehr konnte jeder Bürger Anklage führen. Um niemanden übermächtig werden zu lassen, konnte jährlich jeder, gegen den sich 6.000 Bürger anonym aussprachen, auf einige Jahre verbannt werden (Ostrakismos). Freilich verlor er weder sein Vermögen noch sein Ansehen oder seine sonstigen Rechte. Eine Gewaltenteilung war nicht vorgesehen, Legislative und Jurisdiktion lagen ungeteilt und unmittelbar in der Hand des Volkes selbst. Gewählte wie erloste Amtsträger fungierten nur ein Jahr lang – direkte Demokratie in Reinkultur! 

Was uns die antike Demokratie lehren kann 

Von den antiken Autoren wurde die Demokratie eher negativ beurteilt – eine Einschätzung, die sich erst in jüngerer Vergangenheit änderte. Aus ihrer Sicht wäre die moderne „Demokratie“ allerdings eine Mischform aus „Oligarchie“ und „Ochlokratie“. Wir können uns heute nur über soviel echte Volksherrschaft bei den alten Athenern wundern. Was hervorragende Männer wie Perikles zu herausragenden Taten in ihrer demokratischen Heimat veranlasste, war ihre Sorge um den Nachruhm, aber nicht die Fortsetzung des Privatgeschäftes mit politischen Mitteln. Glückliches Athen! Und schon gar nicht lag ihnen daran, ihre persönlichen Traumata und Komplexe kollektiv in fanatischen Ideologien oder Utopien zu kompensieren. 

Zur Demokratie gehör(t)en auf alle Fälle auch wirkliche Demokraten, also mündige, einsatzfreudige, verantwortungsbereite und unabhängige Bürger. Was würden Platon und Aristoteles wohl von unserer modernen „demokratischen Reife“ halten, die um den Preis der „sozialen Sicherheit“ die politische Freiheit verkauft? Jedermann galt in Athen als gleich würdig, reif, mündig und geeignet, ein öffentliches Amt zu übernehmen. Deshalb konnten ja die Ämter auch verlost werden! Die Unterscheidung zwischen dem aktiven Wahlrecht für die „Untertanen“ und dem passiven für die „politische Klasse“ zur Legitimierung der Berufsdemokraten und Repräsentanten hätte bei den stolzen freien Griechen keine Chance gehabt. 

Auslosen statt Wahlabstimmung 

Nun leben wir heute in Flächenstaaten und brauchen Repräsentanten. Unsere Gesellschaften sind obendrein zu kompliziert und arbeitsteilig geworden, als dass sich Politik nebenbei oder als Freizeitjob gestalten ließe. Sosehr wir die Gewaltenteilung erhalten wollen und auf den Ostrakismos verzichten können (der immerhin auch nicht schlechter als die mittlerweile gängigen medialen Hinrichtungen war), sosehr stellt das Auslosen der Parlamentarier die echte Alternative dar, solange man den demokratischen Rahmen nicht sprengen will.

Das Los ist der einzige demokratische Ausweg aus dem Mangel an innerparteilicher Demokratie, dem Funktionärsunwesen und Bonzentum, der disziplinierenden Hochzucht von Parteisoldaten durch allmächtige Parteisekretariate, der polypenhaften Durchdringung der Gesellschaft durch die Parteien, der Bildung von politischen Seilschaften, dem neofeudalen Klientenwesen oder der parteipolitischen Besetzung aller Handlungsalternativen bis hin zur faktischen Unbeweglichkeit. Der „volkspädagogischen“ Bevormundung der steuerpflichtigen Souveräne durch selbsternannte Volksbeglücker und der Angst der „Demokratoren“ vor der direkten Demokratie wären genauso der Boden entzogen wie der von oben initiierten und von unten nolens volens angenommenen Korruption. 

Vor allem wird der Wille des Volkes nach statistischen Gesetzen (!) in einem erlosten Parlament wirklich repräsentiert und nicht durch parteiinterne Auswahlverfahren der „Repräsentanten“ manipuliert. Die Probleme der „Quotenfrauen“, „Quereinsteiger“ und ähnliches lösten sich von selbst. Die Parteien blieben durchaus erhalten, wären aber auf eine erträgliche Größe reduziert und zur bloßen Lobby geworden. Die Interessenvertretungen müßten sich via „public relations“ und legalen Lobbyismus um die Platzierung ihrer berechtigten Anliegen kümmern. Die Gerichte blieben tatsächlich unabhängig, und die Geschworenen würden nicht nach parteipolitischer Zugehörigkeit vorselektiert werden. Die Werbewirtschaft könnte sich auf ihre ökonomischen Kunden konzentrieren und hätte an den ohnehin nicht sonderlich geliebten Parteien nicht viel verloren. Für die Meinungsindustrie bliebe die politische Berichterstattung unverändert unterhaltsam. 

Rahmenbedingungen 

Würde man beispielsweise ein Drittel aller, auf 6 Jahre erlosten Abgeordneten alle zwei Jahre erneuern, wäre durch eine parlamentsinterne Rotation für eine interne Einschulung oder ein laufendes „training on the job“ gesorgt. Ausscheidende Parlamentarier ließen sich in Nachbesetzung freiwerdender Beamtenpositionen berufsadäquat unterbringen und „versorgen“, ohne den Staatssäckel durch Abgeordnetenpensionen zusätzlich zu belasten. Eine regionale Repräsentation ist durch entsprechende „Konskriptions“-, Los- oder Wahlbezirke leicht zu bewerkstelligen. So erkorene Abgeordnete wären tatsächlich unabhängig, müßten um keine Wiederwahl bangen und könnten nach Wunsch auf die Angebote der zu Vereinen gewordenen Parteien und diverser Lobbies zurückgreifen. Die Gelder für die direkte wie indirekte Parteienfinanzierung und für die „Wahlkampfkostenersätze“ ließen sich budgetär sinnvoller einsetzen – oder überhaupt einsparen. 

Schlägt jemand (aus welchen Gründen auch immer) das auf ihn fallende Los aus, könnte er eine Ersatzperson benennen. Wo sich die Menschen hingegen noch wirklich kennen, etwa in Kleingemeinden, könnten (müßten aber keineswegs) die Gemeindevertreter durchaus noch gewählt werden. Republikanische Präsidenten werden jetzt schon vielfach durch ein Parlament gewählt, nur dass es dann durch Los rekrutiert und wirklich repräsentativ wäre. Das Staatsoberhaupt könnte die Regierung berufen und entlassen, wenn man die Wahl des Regierungschefs nicht gleich dem erlosten Parlament überträgt.

Wie in allen Demokratien blieben die Regierungsmitglieder dem nun wahrhaft repräsentativen Parlament verantwortlich. Will man jedoch einzelne Fachleute oder kraft ihrer Stellung einflussreiche Persönlichkeiten auf Dauer in der Politik halten (was rein demokratisch keineswegs zwingend ist), so steht ihrer Berufung in einen „Senat“ als weiterer Kammer nichts im Wege. Auch diese Senatoren wären unabhängig und offen deklariert, ihre Kompetenzen könnten von beratend bis mitbestimmend reichen. Die Berufung in einen solchen Senat ließe sich zudem unschwer demokratiekonform gestalten (zB. durch ein qualifiziertes Votum der erlosten Abgeordneten oder durch einen Staatspräsidenten im Konsens mit den erlosten Abgeordneten). 

Schau nach bei Schiller 

Ein „Parlamentsabsolutismus“ würde durch ein solches Zweikammersystem (nicht zuletzt in Kombination mit einem, nicht nur auf das bloße Repräsentieren beschränkten Staatsoberhaupt) verhindert werden. Vor allem spräche nichts gegen eine Verstärkung des direkt demokratischen Elementes. Das Beispiel der Schweiz demonstriert schlagend, dass das „Volk“ oder „Demos“ nicht so dumm ist, wie es eine selbsternannte „Elite“ am „Pöbel“ oder „Ochlos“ gerne hätte. 

Nach der Antike war in vielen Rest- und Rumpfdemokratien diese Loswahl auch üblich geblieben (zB. in manchen deutschen Reichsstädten). Noch in Schillers „Wallenstein“ entsenden die meuternden Pappenheimer eine ausgeloste Verhandlungsdelegation zu ihrem Feldherren (Gefreiter in „Wallenstein“ , Zweiter Teil „Wallensteins Tod“ , Dritter Aufzug, Fünfzehnter Auftritt: „Jedwede Fahn' zog ihren Mann durchs Los“). Mit der Einführung einer Abstimmungswahl von Demagogen und Wahlparteien hat sich die Demokratie leider ein Eigentor geschossen: An der Stelle des alten Feudalismus und Absolutismus hat sich nur ein anderer entwickelt. Nicht einmal die Parlamentarier sind heute wirklich frei. Was die Demokratie aber eigentlich will, ist die Freiheit. Diese politische Freiheit gilt es, in unserer vernetzten und komplexen Welt zu retten, und wenn es sein muss, dann durch eine neues Auswahlverfahren für unsere Abgeordneten.

Literaturnachweis

Donald KAGAN: Perikles. Die Geburt der Demokratie. Aus dem Amerikanischen von Ulrich ENDERWITZ. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1992.

Friedrich von SCHILLER: Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht. Schillers sämtliche Werke in 12 Bänden, 4. Band. J.G. Cotta'scher Verlag, Stuttgart 1860.

(Aula 10/94)

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