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Das neue Weißbuch zur Sicherheitspolitik: Ein Besorgnis erregendes Dokument der Widersprüche

Von Bernd Biedermann 

Am 13.7.2016 wurde das neue Weißbuch zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr veröffentlicht. Nach Festlegung der Verfasser stellt es das „oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ dar. Denen, die das neue Weißbuch vorschnell als einen PR-Coup bezeichnet haben, ist entgegenzuhalten, dass es vielmehr ein besorgniserregendes Dokument ist, das den Machtanspruch der Neokonservativen deutlich macht. Es steht für eine weltweite Interventionspolitik, eine schleichende Militarisierung im Inneren und die Fortsetzung der Rüstungsexporte. Die Landesverteidigung selbst spielt im Weißbuch so gut wie keine Rolle.

Der aufmerksame Leser bemerkt bald, dass es sich um ein Dokument voller Widersprüche handelt, in dem nur wenig Konkretes zu finden ist. Zudem fällt ein ungewöhnlicher, befremdlicher und abgehobener Sprachstil auf, der sehr dem des Papiers „Neue Macht, neue Verantwortung“ vom Oktober 2013 ähnelt. Man muss schon genau zwischen den Zeilen lesen, um des Pudels Kern zu finden. Offensichtlich waren an der Erarbeitung zu viele Köche beteiligt, die den Brei verdorben haben. Wahrscheinlich haben daran mehr Leute mitgewirkt, als es Leser finden wird. Auf alle Kapitel des Weißbuchs einzugehen, ist hier nicht möglich. Deshalb werden nur die wichtigsten Aussagen einer kritischen Betrachtung unterzogen.

Fragwürdiges Streben nach einer Vorreiterrolle

An erster Stelle ist der neue Führungs- und Machtanspruch Deutschlands in Europa und darüber hinaus zu nennen. Behauptet wird, Deutschland werde zunehmend als „zentraler Akteur“ in Europa wahrgenommen. Der eigene Gestaltungsanspruch, die zahlreichen Krisenherde in der europäischen Nachbarschaft und darüber hinaus, aber auch die gestiegenen Erwartungen an die außen- und sicherheitspolitischen Rolle Deutschlands würden eine Trendwende verlangen.
Danach heißt es, dass man die „globale Ordnung mitgestalten“ will und Deutschland bereit ist, „sich früh, entschieden und substanziell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen.“ Damit sind die strategischen Prioritäten gesetzt. Bleibt zu fragen, wie Deutschland als zentraler Akteur in Europa tatsächlich wahrgenommen wird und ob die eigene Wahrnehmung auch die Zustimmung der anderen europäischen Staaten findet. Schließlich verbirgt sich dahinter das unverhohlene Streben nach einer Vorreiterrolle und nach Vorherrschaft. Im Weißbuch wird dieses Streben als „Handlungs- und Gestaltungsanspruch“ umschrieben. Wenn dann behauptet wird, das sicherheitspolitische Selbstverständnis sei geprägt durch die Lehren aus unserer Geschichte, muss man sich fragen: Ja welche Lehren denn? Hat man schon vergessen, dass Hitlerdeutschland den Zweiten Weltkrieg begonnen hat und unsägliches Leid über die Völker brachte?

Geforderte Rolle der Streitkräfte verstößt gegen das Grundgesetz 

Die Festlegungen für eine „strategische Neuausrichtung der Bundeswehr“ zielen eindeutig darauf ab, ihre Fähigkeiten für Auslandseinsätze zu erhöhen. Dazu erklärt das Weißbuch ausdrücklich die Bereitschaft zur Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt. Es heißt zwar, robustes militärisches Eingreifen müsse völkerrechtlich legitimiert sein, aber gemeint ist das, was im Papier „Neue Macht, neue Verantwortung“ steht. Danach müssen in Ausnahmefällen auch „humanitäre Interventionen“ ohne Erlaubnis des Sicherheitsrats erlaubt sein. Solche Einsätze hat es schon mehrfach gegeben. Das im Weißbuch geforderte „globale deutsche militärische Engagement“ ist mit einer flagranten Verletzung der im Grundgesetz Artikel 26 (1) vorgesehenen Rolle ihrer Streitkräfte verbunden. Im Weißbuch fehlt eine wissenschaftliche Analyse der potenziellen und rationalen Bedrohungen, denen Deutschland tatsächlich ausgesetzt ist. Stattdessen wird behauptet, das Umfeld sei noch komplexer, volatiler (?), dynamischer und schwieriger vorhersehbar geworden.

Immer wieder ist im Weißbuch die Rede von "Resilienz". Was bedeutet das Wort selbst, was versteht man darunter und worum geht es tatsächlich? Der Begriff stammt ursprünglich aus der Kinderpsychologie und beschreibt die Fähigkeit Heranwachsender, Entwicklungskrisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für die weitere Entwicklung zu nutzen. Außer bei Medizinern war der Begriff Resilienz bisher kaum bekannt. Ein Schelm, der dabei an die Verteidigungsministerin denkt.

Die Stärkung von Resilienz und Robustheit des Landes gegenüber aktuellen und zukünftigen Gefährdungen sei von besonderer Bedeutung. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssten ihre Widerstands- und Resilienzfähigkeit erhöhen, um Deutschlands Handlungsfreiheit zu erhalten und sich robust gegen Gefährdungen zur Wehr zu setzen.

Spiel mit dem Feuer, das den Frieden gefährdet

Dieses Resilienzgetöse geht völlig an den Realitäten des Lebens vorbei, die darin bestehen, dass die Gesellschaften der europäischen Staaten auch bei Erhöhung ihrer Resilienz komplett kriegsuntauglich bleiben werden. Im Falle eines offenen Konflikts würden selbst konventionelle Kampfhandlungen innerhalb weniger Tage die fragile Infrastruktur der Länder zerstören. Die Energie- und Wasserversorgung, die Kommunikations-, Transport- und Versorgungssysteme und nahezu alles, was die Menschen zum Leben benötigen, würden ausfallen. Mit der Erhöhung der Resilienz sollen Kriege generell wieder führbar werden. Damit würde der militärische Faktor erneut als Mittel erster Wahl in die Politik einziehen. Wer mit dieser Art Sicherheitsvorsorge die Kriegsgefahr abwenden will, spielt nicht nur mit dem Feuer, sondern gefährdet den Frieden.

Die Behauptung, die Staaten Europas hätten – gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika – auf dem europäischen Kontinent seit Ende des Kalten Krieges eine „einzigartige Friedensordnung“ geschaffen, ist absurd. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Bis zur Auflösung von Warschauer Vertrag und Sowjetunion herrschte in Europa trotz einer totalen Konfrontation Frieden. Schon kurz danach wurde auf dem Balkan ein verbrecherischer Krieg ausgelöst, unter dem die betroffenen Völker noch heute leiden. Die dann einsetzende Osterweiterung der NATO hat zu einer anhaltend latenten Kriegsgefahr geführt. Russland wurde zum Hauptfeind erklärt. Begründet wird das mit der Behauptung, Russland bedrohe seine Nachbarn und habe mit der Sezession der Krim die europäische Friedensordnung offen in Frage gestellt. Fakt ist jedoch: Die UNO-Resolution 2625 (XXV) vom 24.10.1970 erkennt das Sezessionsrecht ausdrücklich an. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes hat auf jeden Fall Vorrang gegenüber dem Souveränitätsanspruch von Staaten. Kein völkerrechtlicher Vertrag und keine innerstaatliche Verfassung kann das Selbstbestimmungsrecht verbieten. Der Vorwurf, Russland habe die Friedensordnung in Europa in Frage gestellt, ist jedenfalls nicht gerechtfertigt.

Das Weißbuch offenbart in wichtigen Abschnitten einen mangelnden militärischen Sachverstand. Vergleicht man es mit der Militärdoktrin der Russischen Föderation (2014) und dem Weißbuch der Volksrepublik China (2015), so liegen im wahrsten Sinne des Wortes Welten dazwischen.

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