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Vorfreude ist die schönste Freude

Von Hubert von Brunn

Eine sanfte Dünung umschmeichelte den feinen Sandstrand, die Sonne stand hoch am wolkenlos blauen Himmel, und der aufkommenden Brise war es zu verdanken, dass es im Schatten des blau-weiß gestreiften Sonnenschirms zu keinen unmäßigen Schwitzattacken kam. Hier war es auszuhalten, zumal Wolfram mit einer gut gefüllten Kühlbox dafür gesorgt hatte, dass es dem jungen Glück an nichts mangelte: Wassermelonen, Trauben, Erdbeeren, Mineralwasser, Champagner. Er war ein Mann, der nichts dem Zufall überließ, und schon gar nicht im ersten Urlaub mit seiner neuen Flamme. Nach Jahren des unsteten Suchens und Nichtfindens war er zutiefst überzeugt, endlich angekommen zu sein. Wenn er mit dem rhythmischen Rauschen der Wellen in sich hineinhorchte, traf er auf ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte: Liebe. Ja, er war verliebt in Sonja, die Frau, die, befreit von ihrem kneifenden Bikini-Oberteil, neben ihm auf dem Rücken lag mit weißen Knöpfen in den Ohren und zu der Musik, die sie über ihren MP3-Player hörte, im Takt das aufgestellte linke Knie bewegte. 

Wolfram steckte sich genießerisch eine Erdbeere in den Mund und genoss, auf seinen rechten Ellbogen gestützt, den Anblick dieses wundervollen Frauenkörpers.

Zehn Jahre, was sind schon zehn Jahre, dachte er versonnen und griff zur nächsten Erdbeere. In seinem Alter – er hatte gerade seinen 45. Geburtstag gefeiert – sollten zehn Jahre Altersunterschied keine Rolle spielen. Er war erwachsen und hatte seine Erfahrungen gemacht, das gleiche galt für Sonja mit 35. Ein halbes Jahr waren sie nun zusammen, und er hätte sich keine schönere, interessantere und unterhaltsamere Frau an seiner Seite vorstellen können. Sanft streichelte er mit seiner linken Hand über ihre Brüste und brachte die Nippel zum Stehen.

Sonja öffnete ihre Augen und blickte ihn herausfordernd an: „Na, was ist“, raunte sie mit laszivem Unterton, „wird es dir schon wieder zu eng in deinem Badehöschen?“

Wolfram lachte laut auf und wälzte sich auf den Bauch. In der Tat brauchte es in Sonjas Nähe nicht viel, um seine Männlichkeit zum Leben zu erwecken. Ihr Körper war wie eine Droge, und er hatte nicht vor, auf Entzug zu gehen. Die Situation am Strand indes, mit all den neugierigen Blicken, von denen er sich beobachtet fühlte, schien ihm ganz und gar unpassend, um seiner aufkeimenden Lust weiter nachzugeben.

„Mach dich nicht lustig über mich, du kleine Hexe“, sagte er leicht verlegen und steckte ihr eine Erdbeere zwischen die vollen Lippen.

„Oooch, mein Süßer, du musst dich doch nicht schämen“, schnurrte Sonja kauend, „ist doch toll, wenn ein älterer Mann so gut drauf ist.“

Das mit dem „älteren Mann“ hatte sie schon wiederholt angebracht, und er fand es nicht lustig. Auch jetzt nicht. Er fühlte sich ganz und gar nicht als „älterer Mann“, und es war völlig unangebracht, ihn als solchen zu bezeichnen. Aber er wollte die friedvolle Stimmung nicht stören und enthielt sich jeden Kommentars. Stattdessen erhob er sich, holte den Champagner aus der Kühltasche, füllte die beiden mitgebrachten Gläser und reichte eines Sonja.

„Hier, mein Schatz, lass uns auf unseren wunderschönen Urlaub trinken und darauf, dass unsere Liebe nie enden möge.“

Die Frau richtete ihren Oberkörper auf, wobei die großartige Modellierung ihrer Brüste besonders gut zu Geltung kam, nahm die weißen Knöpfe aus den Ohren und ließ ihr Glas gegen das seine klingen.

„Darauf trinken wir, mein Lieber. Auf die Liebe und auf das Leben, es gibt nichts Schöneres.“

Beide tranken das Glas in einem Zug aus, dann küssten sie sich leidenschaftlich.

„Komm“, sagte Sonja sanft, nachdem sich ihre Lippen von den seinen gelöst hatten, „leg dich hin. Ich werde dich eincremen und dabei deinen Nacken massieren. Du bist bestimmt noch sehr verspannt.“

Das war eine famose Idee. Ob verspannt oder nicht: Sonja hatte großes Talent als Masseurin, und er genoss es, von ihr durchgeknetet zu werden. Sekunden später saß sie rittlings auf seinem Hintern und traktierte seine Rückenmuskulatur mit kraftvollen Bewegungen, was man angesichts ihrer schlanken, feingliedrigen Hände nicht erwartete.

„Oooh ja, das tut gut. Fantastisch, wie du das machst.“

„Sei ganz ruhig und genieße. Bis wir nach Hause fahren, hast du keine Verspannungen mehr, das verspreche ich dir.“

Wolfram gehorchte. Er schloss die Augen, schwieg und war sicher, dass sie ihr Versprechen einhalten würde. Ab und zu, wenn ihre Daumen allzu fordern zwischen seine Schulterblätter fuhren – möglicherweise lag es aber auch an den langen Fingernägeln, die sich dabei in die Haut bohrten – entrang sich seiner Brust ein unterdrücktes Ächzen und Stöhnen. Eigentlich hätte er aufschreien können, doch er wollte sich keine Blöße geben.

„Weißt du, woran ich gerade denke?“ unterbrach Sonja sein wortloses Leiden.

„Nein, wie sollte ich“, presste Wolfram mühsam hervor.

„Ich denke gerade daran, wie wir unser erstes Weihnachtsfest feiern werden. Draußen ist alles verschneit, im Kamin prasselt das Feuer, wir trinken heißen Punsch und naschen von den Plätzchen, die ich gebacken habe.“ Sonjas Stimme klang verträumt und der Druck ihrer Hände ließ nach.

„Weihnachten!? – Wie kommst du auf Weihnachten?“ prustete Wolfram und schubste Sonja von seinem Hintern. „Strahlender Sonnenschein, blauer Himmel, Meeresrauschen, 30 Grad im Schatten – und du sprichst von Weihnachten?“

„Ich weiß gar nicht, was du hast. In Australien kennen die das gar nicht anders“, entgegnete Sonja indigniert und goss sich noch ein Glas Champagner ein.

„Wir leben aber nicht in Australien. Die haben jetzt ihren Winter, das ist nicht zu ändern. Und wenn die Ausis Weihnachten bei 30 Grad Hitze feiern müssen, ist das auch nicht zu ändern. Bei uns hier bedeutet Juli nun mal Hochsommer, wir sind in Florida, und Weihnachten ist verdammt weit weg.“

Sonja saß mit angezogenen Knien da, nippte an ihrem Glas und schmollte. „Jetzt hast du alles verdorben“, sagte sie beleidigt. „Ich wollte dir damit doch nur sagen, wie sehr ich dich liebe. Weihnachte ist nun mal das Fest der Liebe, und nur der Mann, dem mein Herz gehört, soll mit mir „O du Fröhliche“ singen, kein anderer. Oder ich singe alleine.“ Dabei schniefte Sonja durch die Nase, gerade so als wolle die gleich weinen.

„Aber Liebling“, bemühte sich Wolfram, seine verschnupfte Geliebte zu trösten, „natürlich werde ich mit dir „O du Fröhliche“ singen und alle anderen Weihnachtslieder, die du dir wünscht. Aber für mich ist Weihnachten im Hochsommer so weit weg wie Uranus von der Erde, verstehst du? Alles zu seiner Zeit. Ich will das Hier und Jetzt mit dir genießen. Und das heißt: Palmen, Strand, Sonne, badewannenwarmes Meer, Cocktails, du im Bikini – oder weniger. Das ist großartig, phantastisch. Weihnachten ist ein ganz anderes Feeling. Da bin ich jetzt nicht und da will ich jetzt auch nicht sein. Wenn wir wieder zu Hause sind, wenn es in ein paar Monaten kalt wird und der erste Schnee fällt, dann kannst du mit mir über Weihnachten reden. Jetzt bitte nicht.“

„Du verstehst nichts von Romantik und du hast keine Ahnung von den Gefühlen einer Frau“, entgegnete Sonja schnippisch und band sich als sichtbares Zeichen der momentanen Ablehnung das kneifende Bikini-Oberteil um ihren Busen.

Wolfram verstand dieses Signal, stand auf, packte die Sachen zusammen, und wenig später gingen beiden schweigend über den Strand zurück zum Hotel. Die Versöhnung ließ nicht lange auf sich waren, und unterm Strich war es doch noch ein sehr gelungener Urlaub.



Zu Hause angekommen, waren beide wieder sehr schnell verstrickt in die Routine des Alltags. Jeder ging seiner Arbeit nach, wann immer es ging traf man sich und verlebte schöne Stunden miteinander. Von Weihnachten war keine Rede mehr. Bis eines Tages – es war Anfang September, der Sommer hatte sich noch einmal zurückgemeldet, und das Thermometer zeigte 28 Grad – der Wochenendeinkauf anstand, und man gemeinsam, wie üblich, den Supermarkt aufsuchte. Zunächst verlief alles wie gewohnt. Dann gelangten Wolfram und Sonja in den Bereich, in dem, meist saisonal bestimmt, besondere, mitunter außergewöhnliche Waren angeboten wurden.

„O nein, ich glaube es nicht“, stieß Wolfram hervor, als er der prall gefüllten Container mit Spekulatius, Dominosteinen, Lebkuchen und blöde grinsenden Schokoladen-Nikoläusen ansichtig wurde. „Das darf doch nicht wahr sein! Da draußen ist Sommer, und die vergewaltigen mein Auge mit diesem Weihnachtsscheiß. Weg hier! Ich will das nicht sehen!“

Sonja, die bislang in seinem Arm eingehängt war, löste sich, nahm eine Packung Dominosteine in die Hand und wedelte damit vor seinem Gesicht.

„Du liebst doch Dominosteine. Hast du mir jedenfalls gesagt. Dann nimm doch eine Packung mit. Ist doch egal ob da draußen die Sonne scheint, und die Leute in Shorts herumlaufen. Wenn man Dominosteine mag, kann man sie immer essen, egal wie warm es ist. – Und man kann sich dabei auch schon ein wenig auf Weihnachten freuen.“

In einer reflexhaften Bewegung schlug Wolfram Sonja die Packung Dominosteine aus der Hand und schrie:

„Du hast sie wohl nicht alle!? Um diese Jahreszeit werde ich keinen Dominostein anrühren und nichts von all dem anderen Weihnachtskram, der hier herumliegt. Das ist widerlich, pervers und abartig.“

Die umstehenden Kunden schreckten auf und sahen Wolfram strafend an.

„Du erweckst Aufsehen, mein Lieber, aber nicht so, wie du es gerne hättest. Die Menschen um uns herum finden deinen Auftritt widerlich, so wie ich. Du verlierst deine Contenance, und das nur, weil hier ein wenig an Weihnachten erinnert wird. Das ist ganz schön schwach. Vielleicht solltest du mal zum Psychiater gehen.“

Wolfram war wütend. Hochrot im Gesicht bückte er sich, hob das Päckchen mit den Dominosteinen auf und warf es zurück in den Weihnachtscontainer. Natürlich war seine Reaktion nicht angemessen. Das wusste er in dem Moment, als das Päckchen flog. Er sollte sich besser unter Kontrolle haben. Aber die herablassende Art, mit der Sonja ihn jetzt vor aller Augen im Supermarkt abkanzelte, ging ihm massiv gegen den Strich. Konnte sie nicht einmal in einer grenzwertigen Situation – und von denen hat es im Laufe ihrer Beziehung schon einige gegeben – einfach mal den Mund halten? Konnte sie die Dinge nicht einmal einfach so nehmen, wie sie sind, um dann, später, in aller Ruhe mit ihm darüber zu reden? Aber nein, sie musste immer noch eins draufsetzen. Das letzte Wort gehörte ihr, immer, ob sie im Recht war oder nicht.

Wolfram griff den Einkaufswagen und strebte eiligen Schrittes in Richtung Kassen. Er brauchte Luft, wollte schnellstens raus aus diesem Supermarkt. Auf Sonja achtete er nicht. In der Warteschlange an der Kasse stehend, hatte sie ihn eingeholt.

„Was rennst Du denn so? Wir haben noch gar nicht alles, was auf unserer Einkaufsliste steht“, sagte sie in vollkommener Ruhe, so als wäre nichts gewesen.

„Ich brauche nicht mehr“, entgegnete Wolfram mit unterdrücktem Groll. „Mir reicht es.“

Dieses Wochenende verbrachten sie nicht gemeinsam. Das notwendige Maß an Verständigungsbereitschaft schien nicht vorhanden, um ein harmonisches Zusammensein zu bewerkstelligen. Eine Woche später kam die Aussprache, dann die leidenschaftliche Versöhnung – und alles war wieder gut.



Nach einem wahrhaft goldenen Oktober, den das verliebte Paar mit kurzen sonntäglichen Ausfahrten und ausgedehnten Waldspaziergängen genoss, war der Vorrat an Sonnenlicht für dieses Jahr so gut wie erschöpft. Regen, Regen, Regen, Tage, an denen es nicht wirklich hell wurde, peitschender Wind… Novembertristesse, die sich bei den meisten Menschen aufs Gemüt legt und wenig Raum lässt für unbeschwerte Fröhlichkeit. Auch Sonja und Wolfram hatten darunter zu leiden, doch sie gaben sich beide Mühe, trübe Stimmungen nicht gegeneinander zu richten. Diese graue, unfreundliche Jahreszeit musste überstanden werden – außerdem stand Weihnachten bevor.

Es war Anfang Dezember, und in einer Nacht hatte es tatsächlich schon leicht geschneit. Weiß überpudert wirkte das kahle Geäst der Straßenbäume doch gleich viel freundlicher. An jenem Morgen, der einen ersten Eindruck von Winter vermittelte, fand Wolfram in seiner Tageszeitung eine Beilage, die seine Aufmerksamkeit erregte: ‚Stimmungsvolles Adventswochenende in Nürnberg.’ Der Christkindlesmarkt dort wurde als einer der schönsten Weihnachtsmärkte in Deutschland angepriesen, mit großartigem Flair in historischem Ambiente. ‚Das ist es’, freute sich Wolfram. Die ganze Zeit schon hatte er sich überlegt, was er seiner Sonja Gutes tun könnte, um sie ein wenig aufzumuntern. Wenn Shopping im KaDeWe keine wirkliche Freude mehr aufkommen lässt, dann war ihre Stimmung definitiv am Tiefpunkt angelangt.

Übers Internet buchte er vom Büro aus Bahnticket und Hotelzimmer. Das ging schnell und problemlos – vor allem bekam Sonja nichts davon mit. Es sollte eine Überraschung sein. Seine schöne Partnerin, die Weihnachten so sehr liebte, dass sie selbst bei glühender Hitze im Sommerurlaub in Florida davon schwärmte und ihm im September Dominosteine schmackhaft machen wollte – sie würde begeistert sein. Mehr Weihnachtsstimmung als auf dem Nürnberger Christkindlesmarkt ist kaum vorstellbar. Dort konnte sie schwelgen in all den schönen Dingen, die Weihnachten ausmachten und sich mit Herzenslust einstimmen auf das Fest der Liebe, das sie mit ihm unter dem reich geschmückten Tannenbaum verbringen würde.



Der Winter mit leichtem Schneefall und Temperaturen wenige Grad unter dem Gefrierpunkt hatte sich gehalten – sehr zu Wolframs Freude. Weiter im Süden, verkündete der Wetterbericht, sei in den nächsten Tagen mit ausgiebigen Schneefällen zu rechnen. Nürnberg lag schon ziemlich weit im Süden, und mit diesen Prognosen konnte der Besuch auf dem Christkindlesmarkt nur zu einem Wintermärchen werden.

„Nimm Dir nur ordentlich warme Kleidung mit, Pullover. Schal, Handschuhe Stiefel, und so. Du sollst sich wohl fühlen. Ich möchte nicht, dass du frierst.“

Wolframs mahnende Worte waren unnötig. Nachdem er das Geheimnis gelüftet und Sonja erzählt hatte, dass sie das Wochenende in einer schönen Stadt im Süden verbringen würden, wusste sie schon, welche Garderobe sie einzupacken hatte. Im Winter war das immer etwas mehr, aber da es ja nur um eine Übernachtung ging, konnte sie mit einem großen Koffer auskommen.

„Nun verrate mir doch endlich, wohin wir fahren“, drängelte Sonja, während sie versuchte, den pinkfarbenen Mohair-Pullover auch noch in den prallvollen Koffer zu quetschen. Mit der Kleidung, die sie eingepackt hatte, hätte man mühelos einen 14-tägigen Urlaub überstehen können. Aber so war sie nun mal. Wenn es ums Verreisen ging, überließ sie nichts dem Zufall.

„Na schön“, raunte Wolfram amüsiert und schloss den Reißverschluss um die lederne Reisetasche. Sein Gepäck war erheblich übersichtlicher als das seiner Gefährtin. Aber das kannte er schon und hatte aufgegeben, gegen Sonjas Packwut zu intervenieren. „Wir fahren nach Nürnberg.“

„Nürnberg!?“ Sonjas Überraschung hätte nicht größer sein können. München oder noch besser Garmisch Partenkirchen war ihre Vermutung. Damit hätte sie etwas anfangen können, aber Nürnberg? „Was um alles in der Welt machen wir in Nürnberg?“ fragte sie verständnislos auf ihrem Koffer sitzend.

„Nürnberg ist eine wunderschöne Stadt mit großer Geschichte und einer sehenswerten mittelalterlichen Altstadt“, konterte Wolfram betont gelassen.

„Aha, wir machen also einen kleinen Ausflug in die Vergangenheit, und du erklärst mir die deutsche Geschichte?“ Noch immer konnte Sonja mit Nürnberg nicht wirklich etwas anfangen.

„Vielleicht“, entgegnete Wolfram lächelnd, „wäre das denn so schlimm?“

„Nein, gar nicht“, gab sich Sonja betont gelassen. „Deutsche Geschichte interessiert mich, und warum also nicht Nürnberg?“

Mit aller Kraft gelang es ihr, das Schloss ihres Hartschalenkoffers einschnappen zu lassen. Da schoss ihr die einfache und in gewisser Weise logische Erklärung für diese Fahrt ins Frankenland durch den Kopf. Na klar, am Samstag spielt der 1. FC Nürnberg zu Hause gegen Borussia Dortmund. Als gebürtige Westfalin war sie leidenschaftlicher Borussia-Fan und nahm regen Anteil am Vorankommen des Vereins. Aber warum ein Auswärtsspiel ausgerechnet in Nürnberg? Wenn schon, dann wäre ein Heimspiel gegen Bayern München doch sehr viel interessanter gewesen. Egal, an diesem Wochenende steht nun mal dieses Spiel an, und Wolfram wollte ihr einfach eine Freude bereiten, sie ein wenig aufmuntern. So ein Schelm, dachte sie, aber süß.

„Na dann, ab nach Nürnberg“, sagte sie vergnügt und gab Wolfram einen Kuss. „Ich freue mich, deine Überraschung ist gelungen.“

Wolfram war glücklich. Jetzt war ihr das berühmte Licht aufgegangen, jetzt hatte sie begriffen, weshalb sie nach Nürnberg fahren. Klar, als Weihnachtsfreak war für sie Nürnberg natürlich eins mit dem Christkindlesmarkt. Schön, dass sie sich so freuen konnte. Es würde ein wunderbares Wochenende werden.



Die gut vierstündige Fahrt in der 1. Klasse des ICE war außerordentlich entspannend und vergnüglich, und wer Sonja und Wolfram begegnete, konnte nicht umhin, diese beiden Menschen als ein verliebtes und rundum glückliches Paar zu beschreiben.

Gegen Mittag in Nürnberg angekommen, ließen sie sich mit einem Taxi zum Hotel bringen. Wie üblich, unterzog Sonja das Zimmer einer kritischen Prüfung, um schließlich festzustellen:

„Gut, das ist in Ordnung. Hier können wir bleiben.“

Wolfram war erleichtert. In Sachen Hotel war Sonja sehr eigen, aber bei dem Fünf-Sterne-Haus war zu erwarten, dass sie nichts zu bemängeln hatte.

„So Schatz, nun zieh dich warm an. Und dann gehen wir los.“

„Was, jetzt schon? – Wir haben doch noch Zeit, und außerdem fände ich es schön, wenn wir vorher noch etwas essen“, reagierte Sonja einigermaßen erschrocken auf Wolframs Aufforderung, während sie den Schrank mit dem Inhalt ihres Koffers bestückte.

„Nein, es ist keine Eile“, besänftigte Wolfram, „aber ich denke, wir sollten die kurze Zeit, die wir haben, richtig genießen. Und keine Sorge, zu essen wirst du reichlich bekommen.“

Oho, dachte Sonja, er hat also Plätze in der VIP-Lounge reserviert. Guter Mann. Er hat eben Stil.

„Kein Problem, Liebling, in zehn Minuten bin ich startbereit.“ Sonja musste ihm Recht geben. Sie sollten wirklich keine Zeit verschenken.

Das Taxi, das Wolfram vom Zimmer aus über die Rezeption bestellt hatte, wartete bereits vor dem Hoteleingang.

„Wohin soll’s geh’n“ fragte der Taxifahrer, nachdem sie im Fond Platz genommen hatten.

„Zum Christkindlesmarkt“, sagte Wolfram stolz „wohin denn sonst?“

„Da ham’s Recht“, pflichtete der Taxifahrer ihm bei. „Es gibt nix Schöneres als den Christkindlesmarkt, grad jetzt, wo’s a no schneit.“

Sonja fühlte, wie eine verbale Keule in ihr Gesicht schlug. Entweder es war ein schlechter Traum und sie würde gleich schweißgebadet aufwachen – oder sie war definitiv auf der falschen Veranstaltung. Das Taxi setzte sich in Bewegung, und Sonja musste sich mit der Tatsache abfinden, dass es sich nicht um einen Traum handelte.

„Habe ich richtig gehört? Wir fahren zum, wie heißt das hier, Christkindsmarkt?“

„Christkindlesmarkt“ korrigierte der Taxifahrer. „Der schönste Weihnachtsmarkt der Welt, grad jetzt, wo’s a no schneit.“

In Sonjas Kopf war alles durcheinander. Keine Borussia, kein spannendes Spiel, keine VIP-Lounge mit Champagner und Kaviar. Stattdessen mit Tannenzweigen und aufgesprühtem Schnee dekorierte Bretterbuden, Kettenkarussell mir Dudelmusik, aufdringliche Gerüche von Bratwurst, gebrannten Mandeln und billigem Glühwein, Menschenmassen, die sich durch die schmalen Gänge schieben, und von irgendwo her das Jauchzen eines Kinderchores, der salbungsvoll „Ihr Kinderlein kommet“ schmettert. – Nein, das war zu viel. Das war definitiv mehr als sie ertragen konnte.

„Anhalten!“ schrie sie den Taxifahrer an, „Sofort anhalten!“

Der arme Kerl wusste nicht, wie ihm geschah, doch er gehorchte ihrem Befehl und parkte den Wagen vor einer Garagenausfahrt.

Wolfram verstand überhaupt nichts. Was war jetzt wieder in sie gefahren. Er hatte alles getan, um ihre Sehnsucht nach Weihnachten zu befriedigen, und jetzt, da sie ganz nah dran waren am schönsten Weihnachtsmarkt der Welt, wie der Taxifahrer gesagt hat, jetzt wollte sie aussteigen?

„Was soll das?“ fragte er konsterniert. „Was zum Teufel willst du?“

„Was zum Teufel ich will?“ – Sonja spuckte Gift und Galle. „Ich kann Dir sagen, was zum Teufel ich nicht will. Ich will auf gar keinen Fall auf so einen verkitschten Weihnachtsmarkt gehen. Ich will mich nicht von einem Pulk verblödeter Touristen durchschieben lassen, ich will nicht eine halbe Stunde lang anstehen für ein paar mickrige Bratwürste und ich will nicht einen einzigen Cent ausgeben für diesen abscheulichen Weihnachtströdel.“

Sonja war in Rage und gab Wolfram keine Gelegenheit, auf ihre Tiraden einzugehen.

„Du bist von allen guten Geistern verlassen, mich von Berlin hierher zu karren, nur um mir dieses Pseudoweihnachten zu präsentieren. Das hätten wir am Gendarmenmarkt oder am Charlottenburger Schloss oder in Spandau genauso gruselig und weitaus billiger haben können. Das ist ganz und gar nicht meine Vorstellung von Weihnachten. Fressen und Saufen, billiger Tand, den niemand braucht zu völlig überteuerten Preisen – das will ich nicht, das brauche ich nicht. Wenn das dein Weihnachten ist, dann musst du es ohne mich verbringen. Ich habe damit nichts zu tun.

„Sagt mir einer, wie’s jetzt weiter geht?“ fragte der Taxifahrer, der diesen Disput mitbekommen hatte, irritiert.

„Zurück zum Hotel“, befahl Sonja. Ihr schneidender Ton ließ keinen Widerspruch zu. Wolframs Gefühlslage war die eines Boxers, der soeben eine Gerade seines Gegners voll auf die Nase bekommen hat. Der Taxifahrer wendete und fuhr zurück zum Hotel. Auf dem Rücksitz blieb es still bis der Wagen vor dem Hoteleingang hielt, und Wolfram die Rechnung beglich. Sie stiegen aus.

„Und was jetzt?“ fragte Wolfram mit drohendem Unterton, den Sonja allerdings nicht wahrnahm. Zu sehr war sie in ihrer eigenen Gefühlswelt verstrickt.

„Was jetzt? – Da fragst du noch?“, blaffte sie zornig zurück. „Sieh zu, dass du die Tickets umbuchst, und wir den nächsten Zug nach Berlin bekommen. Hier hält mich nichts, aber auch gar nichts, und ich will hier auch nicht übernachten.“

Irgendwo in Wolframs Inneren hat es einen Knacks gegeben. Dieser Eklat hat ihn fassungslos gemacht. Jetzt funktionierte er mit kühlem Verstand und ohne Emotionen. An der Rezeption des Hotels abgekommen, ging Sonja wortlos Richtung Aufzug, um in ihr Zimmer zu kommen. Wolfram ließ sich vom Concierge mit der Deutschen Bahn verbinden und buchte Sonjas Ticket um. In zwei Stunden ging ein Zug zurück nach Berlin. Gut so, das war es, was sie wollte. Dann würde er den Christkindlesmarkt eben alleine besuchen, und morgen hatte er noch Zeit für einen ausgedehnten Stadtbummel. Als er das Zimmer betrat, war Sonja dabei, ihren Koffer zu packen.

„Ich habe dein Ticket umgebucht. Du fährst in zwei Stunden“, sagte er gelassen, und goss sich einen Whisky aus der Minibar ein.

„Was heißt, ich fahre in zwei Stunden? – Was ist mit dir?“ Sonjas Ton verriet eine gewisse Unsicherheit.

„Ich habe diese Reise gebucht, um den Christkindlesmarkt zu erleben und ich werde diese Nacht in diesem Hotel verbringen.“

„Du hast sie doch nicht alle! – Nur weil du dafür gezahlt hast, musst du es jetzt auch abarbeiten? Oder wie soll ich das verstehen?“

„Du hast bis jetzt nichts verstanden, und es ist nicht nötig, dass du das verstehst. Pack nur einfach deine Klamotten ein und fahr nach Hause.“ Wolfram war ausgesprochen cool und hatte sich voll im Griff.

„Und was ist dann, zu Hause, wenn du wieder da bist?“ fragte Sonja angstvoll.

„Gar nichts wird sein? Sicher ist, dass wir Weihnachten nicht zusammen verbringen werden. Wenn du willst, melde dich zu Ostern und sag’ Bescheid, wie ich die Eier färben soll.“

Sonja sah ihn ungläubig an. Das konnte doch nicht sein Ernst sein? Wegen einer solchen Lappalie? Das Telefon klingelte. Wolfram nahm ab.

„Dein Taxi wartet“, sagte er und drückte ihr einen 50-Euro-Schein in die Hand. „Hier, fürs Taxi. Den Rest kannst du behalten.“

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