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Ein Versprechen zu Weihnachten: der Auslöser einer Ereigniskette

Von Hans-Jörg Müllenmeister 

Als antikes, lebendes Menschenfossil schaut man eher wohlwollend in einer Art Retrospektive auf geschehene Lebensereignisse. Gewiss, manchmal gleicht das Leben eher einer Hühnerleiter: „beschi.. von oben bis unten“. Gelegentlich prägt ein glücklicher Zufall den Lebensweg; selten bereichert gar eine Kette wundersamer Zufälle unsere Lebensspur.

Die Chaos-Forschung hat das schöne Bild für ein dynamisches System bereit, das nicht vorhersagbar erscheint, bekannt als Schmetterlingseffekt. So kann der Flügelschlag eines einzigen Schmetterlings am Ende eine Wetteränderung auslösen.

Damals, als frisch Vermählter, rang mir wohl ein ganzer Schwarm Schmetterlinge im Bauch ein Versprechen zu Weihnachten ab. Es sollte  jahrzehntelang meinen Lebensweg angenehm mit Überraschungen begleiten.  

Ein Saphir-Ring, Auslöser für die erste Weltreise 

Und so begann alles: Als frischer Jungingenieur versprach ich meiner Angetrauten einen Saphir-Ring, dies aber erst nach Ablauf von zehn Ehejahren. In den sechziger Jahren gehörte so ein Preziosen-Kauf für mich eher ins Reich der Utopie. Die Jahre vergingen im fleißigen Bemühen, das Ersparte eher in ein künftiges Heim anzulegen. Ein Fass ohne Boden tat sich auf: Die Baupreise stiegen schneller als es der Sparwille zu leisten vermochte. Resigniert beschloss der Familienrat das „angerührte“ Betongold lieber in eine Weltreise zu investieren. 

Erinnern Sie sich noch an den guten, alten Josef Neckermann mit seinen legendären Reisekatalogen? Weltreisen konnte man individuell zusammen stellen. In China war der „Neckelmann-Reiseleitel“ ein Begriff. Damals ging das alles noch ohne lange Warteschleifen, ohne Handicaps an den Flughäfen. Beim Studium dieser Reise-Broschüren teilte ich meiner Frau so beiläufig mit, dass ich bei der Gelegenheit in Thailand/Bangkok mein in Vergessenheit geratenes Versprechen einlösen wollte: den versprochenen Saphir-Ring. 

Gereist, getan! Im Weiterflug nach Sri Lanka bestaunten und besprachen wir in epischer Breite den frisch erworbenen Saphir-Ring an der Hand meiner Frau. Da meldete sich mein Sitznachbar, der unser Gespräch interessiert verfolgt hatte. „Sagen Sie, sind sie etwa Gemmologe (Edelsteinkundler), ich meine wegen ihrer Fachkenntnisse?“ „Aber nein, ich bin Elektro-Ingenieur, aber wie kommen Sie denn auf den Gemmologen?“ fragte ich. „Ach Gott, dann sind Sie genau so ein Berufs-Blödmann wie ich einer war“, gab der Mitreisende fast triumphierend zur Antwort. Darauf entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch. Der Ex-Ing. hatte seinen Beruf an den Nagel gehängt und verkaufte statt dessen gewinnbringend farbenprächtige skurrile Muscheln aus der Südsee, die er widersinnig am Nordseestrand den Touristen für hübsches Geld feilbot. Hier gab es ja höchstens unansehnliche Miesmuscheln. Er habe zuvor einen Super-Deal auf den Malediven gemacht, meinte er beiläufig. 

Meine prophylaktischen, gemmologischen Fachkenntnisse hätte ich nur aus einem einzigen Buch von Prof. Schlossmacher, um nicht beim Saphir-Kauf hereingelegt zu werden, versicherte ich ihm. „Mensch, werden sie Gemmologe (Edelsteinkundler), besuchen Sie doch die angebotenen Fachkurse im Edelsteinzentrum Idar-Oberstein“, so bekniete er mich ausgiebig. Aber wie sollte ein „schaffender Ingenieur“  überhaupt dafür seine Freizeit opfern? 

Von der Reise zurück, wurmte es mich, dass ich in der Tat weder die Echtheit noch den Wert des Edelsteins richtig bewerten konnte. Schließlich wollte mir ein Juwelier bloß für eine Schätzung – wohlgemerkt kein Gutachten  – unverschämt viel Geld abknöpfen. Das war der Auslöser für mein späteres, ausgiebiges Studium der Edelsteine und Diamanten, mein jahrelang gepflegtes Hobby. Vor allem hatten es mir die Einschlüsse in den Edelsteinen angetan. Übrigens, der Saphir aus Thailand war zwar echt, indes seine Farbe unter europäischen Sonnenlichtverhältnissen viel zu dunkel. Nur intensiv-blaue Saphire (das Königsblau) gelten als wertvoll. 

Es bewahrheitet sich: Reisen bildet und erweitert den Horizont. Man bringt Taschen voller Erlebnisse mit nach Hause. Die monetäre Alternative, ein Haus zu erwerben, vermochte das wohl kaum. 

Übrigens, die spätere, obsessive Beschäftigung mit Edelsteinen wurde immer spannender. Speziell das Erkunden ihrer Einschlüsse. Hier stieß ich sogar auf radioaktive Natur-Beigaben, z.B.Thorium – etwa beim Tiefzirkon oder Ekanit. Zur Untersuchung baute ich mir einen Geiger-Müller-Zähler, der den abgestrahlten Teilchenstrom aus dem Steininnern (Alpha, Beta- oder Gamma-Strahlung) „zählte“. Auf der Suche nach radioaktiven Stein-Objekten hatte ich soeben mit meinem frisch gebauten Geigerzähler einen hochseltenen – erst 1955 von Ekanayake identifizierten Edelstein – in Idar-Oberstein erstanden.

Im Hotelzimmer spielte ich gerade mit dem Messgerät, das „nackt“ ohne Prüfobjekt, nur die allgegenwärtige sog. Höhenstrahlung (Gamma-Strahlung) aus dem Weltall zählen sollte. Mein strahlender Prüfling lag ja weit weg versteckt im Schrank. Ich war überrascht, denn der Geigerzähler überschlug sich plötzlich vor lauter Partikel-Einschlägen. Schon glaubte ich an einen Fehler meiner Bastelkunst. Kurz und un-gut: Der draußen niederprasselnde April-Regen verursachte diese „Fehlmessung“. Zunächst unerklärlich, aber der Niederschlag musste stark radioaktiv sein. Erst Stunden später erfuhren wir es alle aus den Nachrichten: Auslöser war die Nuklearkatastrophe in Tschernobyl, die sich am 26.4.1986 ereignete. Das zeigt, wie nützlich ein Hobby sein kann. Und auf Flugreisen mitgenommen, übernahm mein Geigerzähler sogar die Funktion als Höhenmesser. Dazu sei kurz angemerkt: Die Intensität der kosmischen Höhenstrahlung nimmt mit zunehmender Höhe über dem Meeresspiegel grob linear zu.

 „Hier spricht der Kapitän: Verehrte Fluggäste, wir haben soeben unsere Flughöhe von 12.000 Metern erreicht“. Pustekuchen, das war schon vor einer halben Stunde, wie mir die Impulsanzeige meines Geräts verriet. Die Crew im Cockpit hatte sich wohl vor der Durchsage noch ein Kaffeepäuschen gegönnt, oder hatte womöglich die hübsche Stewardess den Kapitän bezirzt? 

Auch bei der Pilzsuche in Bayern ist mir der Geigerzähler ein nützlicher Begleiter, denn viele Wildpilze sind weiterhin „verstrahlt“. Sie nehmen das Radioisotop Cäsium 137 aus dem Boden auf und bauen es in ihre Zellen ein. Selbst nach 17 Jahren lässt Tschernobyl noch strahlend grüßen. 

Rauchersucht adieu, es triumphiere der Sport   

Zeitschnitt  – Großes Glück hatte ich mit meiner ersten Arbeitsstätte in einem leistungsstarken Elektrounternehmen in München mit etwa Zweitausend Mitarbeitern – heute angeschwollen zu einem weltweit agierenden Technologiekonzern mit über dreizehntausend Mitarbeitern. Meine ersten Berufsjahre waren von der Aufgabenstellung wie maßgeschneidert für mich, indes auch mit positivem Stress verbunden. Dabei entwickelte sich bei mir eine Rauchersucht, die ich vergebens versuchte zu bekämpfen. 

Eines schönen Sommertages brachte eine Wette den ersehnten Durchbruch. Frau Barbara meines Berufskollegen berichtete stolz, dass ihr Mann Kraft seines Willens die Abstinenz vom Rauchen nach Weihnachten geschafft hätte. Das könnte ich auch, meinte ich trotzig, aber ich hätte keine Alternative dazu, um dem Teufelskreis zu entkommen. “Machen sie doch Sport, sie sind doch ein sportlicher Typ, können sie denn aus dem Stand drei Meter weit springen?“  „Bestimmt, wetten wir um eine Flasche Rotwein“, versicherte ich. In der Tat waren es nachgemessene drei Meter. Das gab mir den entscheidenden Fingerzeig und Auftrieb. Rückblickend war das der eigentliche Startpunkt für spätere Weltreisen. Zuerst lief ich keuchenden Schritts, bedauert und belächelt von den jungen Sportkameraden im Ort, zuletzt war ich ihr Trainer. Schließlich, nach vielen Sportfesten qualifizierte ich mich mit 40 Lenzen 1981 zur Seniorenweltmeisterschaft in Christchurch/Neuseeland. Wieder hatte mir ein „Zufallsereignis“ Gesundheit geschenkt und ein weiteres Tor zur gegenüber liegenden Seite der Welt, der östliche Hemisphäre, geöffnet.

Natürlich überschlugen sich die Reiseerlebnisse. Nur eine Begebenheit möchte ich aus Aotearoa, dem Land der langen weißen Wolken berichten, wie die Maoris Neuseeland nennen. 

Vorab noch eine Weltmeister-Wortkuriosität, ein 300-m-Hügel, südlich von Waipukurau/Neuseeland sei vorgestellt mit dem leicht einprägsamen Maori-Namen (insg. 85 Buchstaben), schlicht  Taumatawhakatangihangakoauauotam… der letzte Buchstabe mache die Tür zu!

Malerisch lag das Stadion, umgeben von rotflammend-blühenden Eisenholzbäumen, den Chistmas Trees (Weihnachtsbäumen), den die Maoris Pohutukawa nennen. 

Eine Woche zuvor trainierten wir auf einer rustikalen „sportlich hergerichteten“ Wiese, umgeben von meterhohen Hecken. Als Mehrkämpfer lief ich zum Trainingsauftakt ein paar Runden, um mich auf Betriebstemperatur zu bringen. Da geschah es: Urplötzlich flog ein Speer über die meterhohe Hecke (Wettkämpferinnen trainierten hinter der Hecke) und traf mich in meine linke Flankenseite. Noch im Laufen zog ich das Wurfgeschoss aus meinem Körper und erblickte eine große Wunde. Adrenalin stoppte den Blutfluss. Ich rannte zu meinem Sportkameraden Erwin, der sofort die Sanitäter rief.

Wir fuhren zum örtlichen Doktor, der eher mit dem Wohlergehen der vielen Schafe zu tun hatte. „Oh, that’s a big hole“, rief er und nähte ohne Betäubung robust die Schusswunde zu. So war ich der erste Athlet, der namentlich in der örtlichen Zeitung durch einen „sporting accident“ zu „Ehren“ kam. Wozu braucht man da noch eine Goldmedaille? Die wollte ich eine Woche später trotz der Wunde im Wettkampf ansatzweise erringen. Dazu nur soviel: In der letzten Disziplin im Internationalen Fünfkampf, dem 1500-m-Lauf, konnte ich noch vor meinem ärgsten Widersacher das rettende Ziel erreichen.

Mein Sportkollege Erwin stürmte auf mich zu und bremste meine Siegeslaune mit der Bemerkung: „Jörg, Du bist disqualifiziert worden“. Ich war entsetzt. „Und warum“ stammelte ich keuchend. Seine witziger Erklärung: „Du hast aus deinem Wundloch zu viel Luft bekommen. 

Die „zufällige“ Tropenapotheke  

Der Fernosten zog mich mehr und mehr in seinen Bann. Die sogenannte  Rivertour in Nepal begann im Morgengrauen in Kathmandu. Unsere Expeditionsgruppe war inzwischen im königlichen  Chitwan Nationalpark in Südnepal eingetroffen. Ehe wir zur Elefanten-Safari aufbrachen, tafelten wir inmitten des Dschungels in der Tiger-Top-Lode. Die Einheimischen boten uns alles, was das Herz begehrte. In der Lode ging es laut und hektisch her. Allein verließ ich etwas ungehalten vorzeitig die Lode. Auf einem Trampelpfad wollte ich mir für einen Augenblick Ruhe vor der eingefallenen Zivilisation verschaffen. Im mitgeführten Rucksack hatte ich eine perfekte Reiseapotheke verstaut. Nachträglich wunderte ich mich zwar, diese große Blechkiste in den Rucksack gestopft zu haben. Schaden kann’s ja nicht, dachte ich. 

Nach einer Weile hatte ich Mühe, dem Pfad zu folgen. Lianen und großblättrige Pflanzen versperrten mir zunehmend den Weg. Aufgeschreckt huschte etwas an mir vorbei, ohne dass es vor mir die Flucht ergriff. Ja, es folgte sogar meiner Kletterpartie über dem Wurzelwerk. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass der schemenhafte Geist ein Rehkitz war, das mir etwas zeigen wollte. Es war ein magischer Moment. Jemand, der schon einmal im Dschungel umherirrte, weiß, dass es nicht ebenerdig, sondern Auf und Ab zugeht. Schnell verliert man die Orientierung. Ein mulmiges, einsames Gefühl drängte mich umzukehren, zumal das dichte Grün das Tierchen verschluckt hatte. In einer kleinen Lichtung schälte sich eine halb verfallene Bambushütte aus dem Dickicht. Davor kauerte eine zierliche, ausgezehrte Frau mit einem winzigen Baby an ihrer Brust.

Unschlüssig trat ich vorsichtig näher. Wir begrüßten uns mit Namasté, begleitet von freundlichen Gesten. Diese waren aber so präzise wie ein Dialog. Etwas Schreckliches war geschehen. Die Frau deutete mir, dass vor drei Wochen die Mutter des Kindes gestorben sei und sie statt ihrer den Winzling säugte. Beim näheren Hinsehen bemerkte ich schlimme, eitrige Wunden am geschundenen Körperchen des Säuglings, den Fliegen heftig attackierten. Eilig grub ich meine Tropenapotheke aus und versorgte die Wunden mit einer antibiotischen Salbe, die ich auch der Amme hinterließ. Gedankenschwer, den Tränen nahe, verließ ich diesen heiligen Ort des Dschungels. Nach einer irren Dschungelwanderung fand ich schließlich die Lode wieder – die „eingeschleppte“ Zivilisation hatte mich wieder.

Ist es nicht erstaunlich und zudem unvorhersehbar, wie ein einziger Dominostein des Lebens (ein Fingerzeig) im Fallen eine Kette positiver Ereignissen auslöst  – so wie ein einziger zarter Flügelschlag eines Schmetterlings das globale Wetter verändern kann. 

Mephisto gab in Goethes Faust dem Schüler auf den Weg:

Wenn man einen Fingerzeig (auslösendes Ereignis) nur hat 
Läßt’s sich schon eher weiterführen. 
Zwar ist’s mit der Gedankenfabrik (Lebensfabrik) 
Wie mit einem Weber-Meisterstück, 
Wo ein Tritt tausend Fäden regt, 
Die Schiffen herüber schließen 
Die Fäden ungesehen fließen, 
Ein Schlag tausend Verbindungen schlägt… 

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