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Das geheimnisvolle Haus des Templers

Von Hubert von Brunn 

Durch das Panoramafenster seines Penthouses glitt Sebastians Blick über die drei- und vierstöckigen Häuser mit ihren roten Ziegeldächern und den regelmäßig angeordneten Kaminen. Dazwischen die von altmodischen Gaslaternen spärlich erleuchteten Zuwegungen zu den Häuserblocks, die schon halbwegs entlaubten Kastanien entlang der Hauptstraße, der Kinderspielplatz und die kleine Rotunde mit vier Sitzbänken für die Atemlosen und Fußkranken. Das gewohnt unaufgeregte Bild einer Siedlung in einer der besseren Wohngegenden der Stadt.

Sebastian genoss diese Stunde der Kontemplation, mit der er sich nach einem anstrengenden Arbeitstag belohnte. Klassische Musik, ein schönes Glas Rotwein, eine würzige Zigarre – und eben dieser beruhigende, der schnöden Welt dort unten gleichsam entrückte Blick aus der herausgehobenen Perspektive der 12. Etage.

Heute war ein besonderer Tag, Sebastians Geburtstag. Deshalb ließ er, nachdem er umständlich das bunt bedruckte Stanniolpapier und die Drahtumwicklung entfernt hatte, den Korken einer Champagnerflasche mit lautem Knall durch die Wohnung schießen. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, den schlanken Glaskelch unter die Flasche zu halten, so dass nichts von dem edlen Getränk verloren ging. Vergnügt betrachtete er die winzigen, von Kohlensäure über den Rand des Kelchs hinaus katapultierten Champagnerperlchen, ehe er das Glas an die Lippen setzte und mit einem Schluck zur Hälfte leerte. Ja, es war ein guter Tag, auch wenn sein Geburtstag in diesem Jahr auf einen Freitag fiel, Freitag den 13. Mit der 13 hatte Sebastian noch nie Probleme. Im Gegenteil, es war seine Glückszahl. Schließlich hat er von 45 Jahren an einem 13. Oktober das Licht der Welt erblickt und seitdem ein durchaus zufriedenstellendes Leben geführt. Wäre dem nicht so gewesen, könnte er jetzt nicht von hier oben aus dem Fenster sehen und Champagner trinken. Und auch ein Freitag der 13. hatte für ihn nichts Bedrohliches. Ein Tag wie jeder andere, alles andere war Humbug.

Sebastian schenkte nach und stelle die Flasche in den zur Hälfte mit Eiswürfeln gefüllten Kühler. Der Genuss des teuren Tropfens sollte durch unangemessene Erwärmung nicht geschmälert werden. Hinter den meisten Fenstern der unter ihm liegenden Häuser brannte jetzt Licht. Die Menschen waren von der Arbeit nach Hause gekommen, saßen am Abendbrottisch, oder hatten den Fernseher eingeschaltet, oder spielten mit den Kindern, oder blickten vielleicht, wie er, auch aus dem Fenster. Da fiel es ihm auf. Aus dem alten, halb verfallenen Gebäude am Rande eines großen, verwilderten Grundstücks zwischen dem Kinderspielplatz, dem letzten Reihenhaus und dem weiter hinten gelegenen kleinen See drangen matte Lichtstrahlen, und aus dem bröckelnden Kamin stieg Rauch empor.

Seltsam, dachte Sebastian, das ganze Jahr über gab es in diesem Haus nie ein Anzeichen von menschlichem Leben, und jetzt, ausgerechnet heute, ist dort jemand. Seitdem er vor rund einem Jahr in seine schöne Dachgeschosswohnung eingezogen war, beschäftigte ihn dieses Haus. Eine eigenartige Anziehungskraft ging von dem Gemäuer aus. Eine Attraktivität, die er sich nicht erklären konnte. Auf den ersten Blick eine halb verfallenen Bruchbude, ein Schandfleck, der eigentlich entfernt werden müsste. Dann aber wieder umgeben von einem geheimnisvollen Flair, einer Faszination des Unergründlichen, Mysteriösen. Dieses seltsam prickelnde Gefühl war immer da, wenn er von oben auf das Haus sah oder bei seinen Spaziergängen daran vorbei ging.

Zumal er sich jetzt ganz sicher war: Zuletzt hatte er dort Licht vor genau einem Jahr gesehen, am 13. Oktober, seinem Geburtstag. Irrtum ausgeschlossen. Diesen Tag merkte er sich, auch und gerade wenn er ihn, wie in den zurückliegenden fünf Jahren geschehen, mit sich alleine feierte. Früher hatte er noch große Partys gegeben. Das war vorbei. Eine Partnerin an seiner Seite, die es verdient hätte, auf sein neues Lebensjahr mit ihm anzustoßen, gab es nicht. Die mit lächerlicher Unbeholfenheit zur Schau getragene Selbstgefälligkeit der so genannten Freunde ödete ihn an, und dem unverhohlen zu Tage tretende Neidverhalten träger Motten im Dunstkreis wollte er sich einfach nicht mehr aussetzen. Sich in der Gesellschaft von vermeintlich nahe stehenden Menschen einsam zu fühlen, ist mit das Schlimmste, was einem passieren kann.

Morgen, beschloss Sebastian, morgen würde er sich das geheimnisvolle Haus einmal näher ansehen. Es war Wochenende, und er hatte Zeit. Sebastian war früh auf den Beinen, viel früher als sonst am Wochenende. Gespannte Neugier hatte ihn aus dem Bett getrieben. Als er, den Kaffeepot in der Hand, von seinem Logenplatz aus die Umgebung mit prüfendem Blick inspizierte, dämmerte es, und die Straßenlaternen brannten noch. Das kleine Haus indes lag still im dunstigen Halbdunkel. Kein Lichtstrahl drang aus den Fensterritzen, und auch der Kamin blieb rauchlos tot. Warm angezogen mit einer gefütterten Lederjacke, Handschuhen und einer über die Ohren gezogenen Wollmütze machte Sebastian sich auf den Weg. Es war kalt geworden über Nacht, der schneidende Ostwind, der gelb-braune Blätter vor sich her trieb, kündete von dem bevorstehenden Winter. Die schmale Straße, die zu dem Grundstück mit dem alten Haus führte, war menschenleer.

Dort angekommen, blieb Sebastian zunächst vor dem brüchigen Gartenzaun stehen. Er wollte sich vergewissern, dass das Haus auch wirklich unbewohnt war. Er war gewiss nicht feige, aber unliebsamen Überraschungen mochte er sich, wenn irgend möglich, auch nicht aussetzen. Alles war ruhig. Nichts deutete auf die Anwesenheit eines Menschen hin. Was hatten ihm manche Nachbarn schon für Schauermärchen über dieses Haus erzählt: Uralt soll es sein, mindestens 700 Jahre alt; spuken soll es dort, und überhaupt…! Sebastian schüttelte unwillig den Kopf. Unsinn. Dieses einstöckige Häuschen mit seinem Ziegel gedeckten Spitzdach und den bescheidenen, nur noch andeutungsweise erkennbaren Stuckbändern um Tür und Fenstern hatte vielleicht 300 Jahre auf dem Buckel, aber ganz bestimmt keine 700.

Architektur und Geschichte waren Sebastians Hobby, davon verstand er etwas. Nicht wissenschaftlich profund, aber ausreichen für den Hausgebrauch. Vorsichtig schob er das windschiefe Gartentürchen gegen das Laub, das sich hier angesammelt hatte, und betrat das Grundstück. Es war das erste Mal, dass er so weit vordrang, und er hatte Herzklopfen. Mit bedächtigen Schritten umrundete er das Haus, lugte durch die mit rohen Holzbohlen lieblos vernagelten Fenster und erspähte: Nichts! Immerhin entdeckte er an der Rückfront einige Stellen, an denen der Putz abgebröckelt war, und kam ins Grübeln. Die ersten Mauerreihen über dem Fundament bestanden aus geschickt aufeinander geschichteten Feldsteinen. Über den unregelmäßigen Abbruchkanten hatte man mit Ziegelsteinen weitergemauert. Ein klares Indiz dafür, dass die Ursprünge des Hauses doch weiter in der Vergangenheit lagen als auf den ersten Blick erkennbar war, und er vermutet hatte.

Wieder an der Eingangstür angekommen, blieb er davor stehen. Auch das niedrige Entrée war schlampig vernagelt. Er griff durch eine breite Ritze zwischen den Brettern und erfasste die Türklinke. Verschlossen. Nichts zu machen. Als wollte er seinem Unmut über die Unnahbarkeit, die ihm das Haus signalisierte, körperlich Ausdruck verleihen, schabte er mit seinem rechten Fuß die welken Blätter vom obersten Tritt vor der Eingangstür. Da waren irgendwelche Zeichen, nein, Zahlen. Ja, in den Stein des Treppenabsatzes waren Zahlen eingemeißelt. Atemlose Neugier erfasste Sebastian. Er ging in die Hocke und wischte alles Laub mit seinen behandschuhten Händen beiseite. Verständnislos blickte er auf die Zahlenreihe: 13101307. Die Zahlen waren sauber aus dem Stein gehauen und gut erkennbar. An ihrer Existenz auf dem Tritt gab es keine Zweifel, doch was bedeuteten sie? Aus der Brusttasche seiner Lederjacke zog Sebastian Notizbuch und Kugelschreiber hervor – ohne diese Utensilien würde er niemals das Haus verlassen, ebenso wenig wie ohne Stofftaschentuch – und notierte die Zahlen. Wahrscheinlich hätte er sich diese Zahlenreihe auch merken können, doch wer weiß, sicher ist sicher. Dieses Geheimnis wollte er lüften, Fehler durfte er sich dabei nicht leisten.

In seiner Wohnung angekommen, warf Sebastian hastig Mütze, Handschuhe und Lederjacke von sich und ging geradewegs in die Küche. Dort hatte er eine Schiefertafel aufgehängt, die ihn daran erinnern sollte, was im Haushalt fehlte. Mit dem noch leicht feuchten Schwamm wischte er Zwiebeln, Kartoffeln, Senf und Kaffeesahne weg und schrieb aus seinem Notizbuch die Zahlenreihe: 13101307 ab. Nachdem er sich einen Tee bereitet und am Küchentisch, von dem aus er die Schiefertafel im Blick hatte, Platz genommen hatte, wurde er ruhiger. Jetzt nur keine Hektik, besänftigte er sich selbst. Wir brauchen ein kühles Herz und einen klaren Verstand. Aus seinem Arbeitszimmer besorgte er sich Papier und einen Bleistift und begann, die Zahlen in unterschiedlicher Weise hin und her zu schieben, zu sortieren und zu kombinieren. Wie sehr er sich auch mühte, es ergab alles keinen Sinn. Dann hatte er die Eingebung, nach jedem Zahlenpaar einen Punkt. 13. 10. 13. 07 zu setzen

Die ersten beiden Zahlenkombinationen stachen ihm sofort ins Auge. 13. 10., sein Geburtstag. Aber was hatten die Zahlen auf dem Türtritt mit ihm zu tun? Und was war mit 13. 07.? Damit konnte er überhaupt nichts anfangen. – Plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch: „Verdammt, ich hab’s. – Gott im Himmel, wie konnte ich nur so blöd sein?“ In der Tat hing des Rätsels Lösung letztendlich nur an einem Punkt, den er weglassen musste, und zwar zwischen dem dritten und vierten Zahlenpaar. Dann ergab sich: 13. 10. 1307, ein schlimmes, ein böses Datum in der Geschichte des Abendlandes, ein denkwürdiger Tag, an dem sich weder die französische Monarchie, noch die Katholische Kirche mit Ruhm bekleckert haben. An jenem Freitag den 13. Oktober anno 1307 wurden in einem von Philipp dem Schönen (!) – er durfte sich zu jener Zeit „König von Frankreich“ nennen – angezettelten verräterischen Komplott Hunderte von Rittern des Templerordens überfallen und auf der Stelle gemeuchelt, oder, noch schlimmer, gefangen genommen und unter fürchterlichen Qualen zu Tode gefoltert.

Obwohl Sebastian mit Zahlen eher auf Kriegsfuß stand, hatte sich dieses Datum in seinem Gedächtnis eingebrannt. Geschichte, und ganz besonders die des Mittelalters faszinierte ihn, und da dieser Tag nun mal mit seinem Geburtstag zusammen fiel, blieb er in seinem Gedächtnis haften. „Unglaublich“ sagte Sebastian immer wieder vor sich hin, „unglaublich, aber wahr.“ Das Geschichtslexikon, das er aus seiner Bibliothek geholt hatte, um sich der Jahreszahl zu vergewissern, lag neben ihm auf den Küchentisch. Er hatte sich nicht geirrt, es ging um jenes makabre Datum. Doch was hatte das kleine, alte Haus dort unten mit dem Templer-Pogrom zu tun? Das kann doch gar nicht sein. Sebastian war aufgewühlt und gleichzeitig todmüde. Die Ereignisse dieses Tages hatten Kraft gekostet. Besser noch ein Glas Rotwein und dann zu Bett. Morgen würde man weiter sehen.

Am nächsten Morgen überlegte Sebastian, wie er dem Geheimnis des kleinen Hauses und dessen Verbindung zu den Tempelrittern auf die Spur kommen könnte. Nach einigen Überlegungen entschied er sich, als erstes das Pfarramt, zu dem die schmucke frühgotische Kirche auf der anderen Seite des Sees gehörte, aufzusuchen. Je näher dran, desto besser, dachte er, und in alten Kirchenbüchern erfährt man, wenn überhaupt, etwas lokale Ereignisse der Vergangenheit. Das lag auf der Hand.

Also machte er sich auf den Weg. Es würde ein erbaulicher Spaziergang durch den Park werden, und womöglich würde die kühle Luft ihm das Gehirn durchpusten und zu neuen Erkenntnissen verhelfen. Letzteres war nicht der Fall. Ganz und gar nicht zu seiner Freude, musste Sebastian dagegen zur Kenntnis nehmen, dass sein Timing ziemlich schlecht war. An der Kirche angekommen, wurde ihm klar, dass der sonntägliche Gottesdienst in vollem Gange war, und er erst einmal keine Chance hatte, irgendeinen Menschen, der ihm weiterhelfen konnte, anzusprechen. Missmutig setzte er sich in die hinterste Kirchenbank und ließ schlecht gespielte Orgelmusik ebenso geduldig über sich ergehen wie ätzenden Weihrauchqualm. Nur gut, dass er so weit hinten saß.

Endlich war der Segen erteilt, und zwei Dutzend gläubiger Katholiken verließ die Kirche. Vorne am Altar räumte der Pfarrer mit Unterstützung seiner Ministranten die zur Durchführung der Messe notwendigen Gerätschaften auf. Jetzt, dachte Sebastian und schälte sich aus der engen Kirchenbank. Gemessenen Schrittes ging er nach vorne Richtung Altar und Priester. Sebastians in ausgesucht höflichem Ton gehaltene Anrede kommentierte der gute Hirte mit einem schablonenhaften „Grüß Gott, mein Sohn. Was kann ich für dich tun?“

Mit „Sohn“ von einem Menschen angeredet zu werden, dessen Vater er beinahe hätte sein können, erschien Sebastian in höchstem Maße albern und deplaziert, doch er enthielt sich der spitzen Bemerkung, die er auf den Lippen hatte. Er wollte ja etwas von dem Mann, er war in gewisser Weise abhängig von ihm. Dann sollte er ihn in Gottes Namen auch „Sohn“ nennen.

„Ja, Hochwürden“, entgegnete Sebastian sanft – diese Anrede kannte er aus der Literatur und aus dem Fernsehen, und sie schien nicht falsch zu sein, denn der junge Mann im schwarzen Talar nahm sie wohlwollend zur Kenntnis – „ja, ich denke, Sie können etwas für mich tun.“

Jetzt war der Pfarrer erstmals geneigt, sein Haupt Sebastian zuzuwenden und musterte ihn mit prüfendem Blick. „Die Zeiten, an denen ich die Heilige Beichte abnehme, finden Sie auf dem Anschlag am Ausgang der Kirche“, sagte der Gottesmann kühl und wandte sich wieder seinen Aufräumarbeiten zu.

„Nein, nein“, sagte Sebastian hastig, „ich will nicht beichten… äh, ich meine, jetzt nicht. Ich habe eine Bitte.“

„Eine Bitte?“ wiederholte der Pfarrer mit leicht hochnäsigem Ton und zog die linke Augenbraue hoch.

„Ja“, fuhr Sebastian unbeirrt fort. Am liebsten hätte er diesem arroganten Popen eine Ohrfeige gegeben. Aber er brauchte ihn ja noch. „Gibt es in der Pfarrei alte Kirchenbücher, Chroniken und so was?“

„Ich denke schon“, sagte der junge Geistliche gelangweilt. „In der Sakristei gibt es mehrere Regale, vollgestopft mit alten Folianten und Papieren. Ich muss zugeben, ich habe mich für diese Zeugnisse der Vergangenheit nie sonderlich interessiert. Mein Blick ist eher nach vorn gerichtet. Das Morgen unserer Kirche liegt mir am Herzen, nicht das Gestern.“

Jetzt hatte Sebastian richtig Lust, diesem arroganten Schnösel eine runterzuhauen. Philosophisch unbegründet und politically definitiv not correct, einfach so, vielleicht aus einem spontanen Gefühl der Scham gegenüber jenen Gläubigen, die unbeirrt in die Kirche gehen und sich der Ignoranz dieses „Seelsorgers“ ausliefern.

„Das ist weise und vorausschauend“, sagte Sebastian heuchlerisch, „aber sehen Sie, ich bin Historiker, und als solcher muss ich mich nun mal mit der Vergangenheit beschäftigen.“

„Aaaah, Historiker“, kommentierte der Pfarrer gedehnt.

„Genau, und ich interessiere mich besonders für die Stadtgeschichte im Mittelalter.“ Sebastian blieb ruhig und freundlich, obwohl es ihm nicht ganz leicht fiel. In diesem Moment öffnete sich die Tür zur Sakristei und ein alter Mann kam schlurfend heran.

„Hier, Alois, schön aufbewahren wo es hingehört, hörst du!“ Damit übergab der Priester dem Alten das Messgewand, Stola und andere Gegenstände.

„Ja, Hochwürden, selbstverständlich“, gab der kauzige Alte unterwürfig zurück und wollte sich schon wieder der Sakristei zuwenden.

„Der Herr hier interessiert sich für die alten Bücher in unsere Sakristei. Du darfst sie ihm zeigen, aber es wird nichts ausgeliehen. Kein Stück verlässt den Raum! Ich gehe jetzt zu Tisch – und macht bloß nichts kaputt.“

Sebastian hatte kaum mehr gehofft, so schnell Zugang zu den Büchern zu gewinnen, doch er konnte auch nicht damit rechnen, einem Hochwürden zu begegnen, dem der ganze Vorgang lediglich ein willkommener Anlass war, seine Macht zu demonstrieren. Die Bücher als solche interessierten ihn einen feuchten Kehricht.

Von diesem Moment an war ihm der Pfarrer mindestens genauso egal. Er wollte die Bücher sehen, und um dort hin zu gelangen, musste er sich an den Küster halten. Also ließ er das Priesterlein grußlos stehen und folgte Alois’ schlurfenden Schritten. „So, so, unsere alten Bücher möchten Sie sehen“, schnarrte der Alte durch sein lückenhaftes Gebiss. Darf ich fragen, für welche Zeit Sie sich besonders interessieren?“

„Frühes 14. Jahrhundert“, entgegnete Sebastian sachlich. „Das Jahr 1307, um genau zu sein.“

Der Küster, gerade damit beschäftigt, das Messgewand akkurat auf einen Kleiderbügel zu hängen, zuckte leicht zusammen und legte seine Arbeit beiseite. „1307, was Sie nicht sagen. Und weshalb ausgerechnet dieses Jahr?“

Die gezielten Fragen des alten Mannes irritierten Sebastian. War es nur jene dümmliche Neugier, wie sie üblicherweise Pförtner, Putzfrauen und womöglich auch Küster an den Tag legen, oder wusste der alte Kauz mehr als er vordergründig zu erkennen gab? Sebastian entschied, den Mann nicht zu unterschätzen.

„Na ja“, meinte Sebastian, um einen freundschaftlich-verbindlichen Ton bemüht, „in dem Jahr gab es ein Ereignis, das die damalige Welt erschütterte. Das interessiert mich.“

„Ja, ja, die Templer“, kicherte der Alte. „Die Templer und das kleine Haus drüben am See. Da sind Sie hinterher. Hab ich Recht?“

Sebastian musste sich sehr zusammennehmen, um sich nichts anmerken zu lassen. Aber nachdem der Alte sein Anliegen durchschaut hatte, brauchte er ihm auch nichts mehr vorzumachen.

„Genau, darum geht es“, beantwortete er die Frage nüchtern und wahrheitsgemäß.

„Dann habe ich etwas für Sie“, sagte Alois wichtig, zog mit sicherem Griff einen riesigen, in dunkles Leder gebunden Folianten aus dem Regal und ließ das schwere Buch vor Sebastian auf den Tisch plumpsen.

„Da“, sagte er streng und zeigte mit ausgestreckter Hand auf den Folianten, „da steht alles drin. Sie müssen es nur lesen und verstehen.“

Damit drehte er kichernd ab und schickte sich an, die Sakristei zu verlassen. Unter der Tür drehte er sich noch einmal um. „Die erste Hälfte können Sie vergessen. Das, worum es Ihnen geht, beginnt auf Seite 173. Na dann viel Vergnügen. – Wenn Sie gehen, hinterlassen Sie bitte alles so, wie Sie es vorgefunden haben. Die Sakristei schließen Sie ab und legen den Schlüssel unter die Kupferplatte des Taufbeckens. Der Herr Pfarrer kommt gegen halb sechs, um den Abendgottesdienst vorzubereiten. Bis dahin sollten Sie gegangen sein. Dafür brauchen Sie sowieso Wochen.“

Mit den letzten Worten deutete er noch einmal auf das Buch, nickte vielsagend und verschwand.

Bemerkenswerter Mann, dachte Sebastian, hätte ich dem alten Knaben nie zugetraut. Dann aber galt seine ganze Aufmerksamkeit dem dicken Wälzer vor sich auf dem Tisch. Vorsichtig wischte er mit seinem Taschentuch die Staubschicht von dem Einband. Bedächtig, beinahe ehrfurchtsvoll öffnete er den lederbezogenen Holzdeckel. Das Papier war rau, vergilbt und roch muffig. Aber es war intakt, weder brüchig, noch schimmelig, die Bindung stabil, und die Seiten ließen sich mühelos umblättern. Nachdem er die in kunstvoll geschwungener Handschrift fabrizierte Titelei entziffert hatte, war jeglicher Zweifel ausgeräumt: vor ihm lag das Kirchenbuch der Pfarrei St. Peter und Paul aus dem Jahre 1307. Sebastian schauderte. Noch nie hatte er ein so altes, original geschriebenes Buch in Händen. Was für ein Erlebnis! Was mochte der Mensch, der vor mehr als 700 Jahren all diese Worte mit akribischer Feder aufs Papier gebracht hat, gedacht und gefühlt haben? Wie mochte es ihm ergangen sein? War er ein glücklicher Mensch, oder musste er leiden?

Sebastian konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Er wollte sich dem Schauder der Vergangenheit nicht endlos hingeben, außerdem hatte er keine Zeit zu verlieren. Ab Seite 173 hat der Alte gesagt, nun gut, dann lassen wir alles andere weg und beginnen dort. Vorsichtig bewegte Sebastian die vergilbten Seiten. Plötzlich hielt er inne und stutzte. Wie konnte ihm der Küster eine derart präzise Angabe machen? Woher wusste er auf die Seite genau, ab wann die Eintragungen das berührten, was ihn interessierte? Hatte er das Buch gelesen? – Ausgeschlossen, verwarf Sebastian diesen Gedanken. Wie sollte der alte Mann diese in schwer verständlichem Deutsch abgefassten, von vielen lateinischen Begriffen durchsetzten Texte verstehen? Bereitete es ihm doch selbst große Anstrengungen, mit dieser Schrift zurecht kommen und sich in die sehr fremd anmutende, äußerst gewöhnungsbedürftige Sprache einzulesen.

Sebastian schob den Gedanken beiseite, doch ein Rest Unbehagen blieb. In einem hatte der Alte allerdings Recht. Diese Seiten durchzuarbeiten, würde ihn Wochen kosten. Wenn er doch nur das Buch mit nach Hause nehmen könnte. Aber das ging nicht. Es war abgemacht, dass alles bleibt, wo es ist. Der Küster vertraute ihm, und er durfte ihn auf keinen Fall enttäuschen. Der Arme wäre bei seinem gestrengen Herrn in Teufels Küche gekommen. Außerdem, wer weiß, vielleicht konnte ihm der alte Mann noch weiterhelfen. Sebastian sah auf seine Armbanduhr. Der Tag war vorangeschritten. Viel würde er an diesem Sonntag nicht mehr in Erfahrung bringen. Er verspürte Hunger und war müde. Für heute sollte es genug sein. Jetzt wusste er ja, wo er zu suchen hatte.


In den nächsten Wochen ging Sebastian sehr oft zur Kirche, sorgsam darauf bedacht, dem Pfarrer nicht zu begegnen. Er wollte dem Geheimnis des Hauses auf die Spur kommen und nutzte jede freie Minute, um die in umständlichem Deutsch abgefassten Berichte Zeile für Zeile zu entziffern. Alois war ihm zu einem Vertrauten geworden, der ihn, wo er konnte, unterstützte und es nie versäumte, sich mit schelmischem Unterton nach den Fortschritten des „Herrn Professors“ zu erkundigen. Auf diese Anrede hatte sich der alte Kauz versteift, und da er trotz wiederholter Einrede Sebastians, er sein kein Professor, nicht davon ablassen wollte, ließ er ihn gewähren.

Viel Belangloses musste er lesen, viele Eintragungen über Menschen, die längst gestorben und vergessen waren. Aber diese Fleißarbeit war aller Mühe wert, denn immer wieder stieß er auch auf höchst interessante Hinweise, die mit „seinem“ Haus zu tun hatten, und aus denen er Stück für Stück ein aufschlussreiches Puzzle zusammensetzen konnte. Demnach hat zu jener Zeit tatsächlich ein freistehendes Haus außerhalb der Stadtmauern „…im Wiesengrund am See in Sicht von Peter und Paul…“ existiert. Es war im Besitz des „Edlen Ritters Ihro Gnaden Joseph von Zimmern“. Als Spross einer wohlhabenden Adelsfamilie aus der Region war Joseph als junger Mann dem Templerorden beigetreten. Obwohl dem Keuschheitsgelübde unterworfen, vermochte er es nicht, den weltlichen Versuchungen vollkommen zu entsagen und ergab sich der Fleischeslust. So lebte in dem Haus im Wiesengrund „ein junges Weib namens Maria mit ihrem Balg“, das der Herr Ritter „…in sündiger Buhlschaft mit ihr gezeugt.“ Eine Frau mit einem unehelichen Kind war im 14. Jahrhundert eine Ausgestoßene und gesellschaftlich untragbar, das war bekannt. Gegen die Geliebte eines Kreuzritters und Angehörigen des mächtigen Templerordens aber wagte offensichtlich niemand, die Hand zu erheben. Und so konnte Maria mit ihrem Kind unbehelligt in dem Haus leben und man zollte ihr, wenn auch widerwillig, einen gewissen Respekt.

In jenem Jahr 1307, wusste die Chronik weiter zu berichten, war Joseph von Zimmern im Spätsommer mit seinem Gefolge nach Paris aufgebrochen. Auf der mächtigen Templerburg vor den Toren der Stadt hatten der Großmeister Jacques des Molay, die Komturen, Provinzialen und andere führende Persönlichkeiten des Ordens zu einer großen Versammlung geladen, um einen weiteren Kreuzzug vorzubereiten. Auch Seine Majestät der König von Frankreich, so hieß es, solle seine Anwesenheit bei dieser wichtigen Zusammenkunft angekündigt haben. Für den Edlen Ritter von Zimmern bedeutete diese Einladung eine außerordentliche Ehre, unmöglich, sie nicht anzunehmen.

Jenes ominöse Treffen auf der Templerburg, auch das war Sebastian bekannt, hat tatsächlich stattgefunden: am 13. Oktober 1307 und zwar im Beisein von Philipp den Schönen, König von Frankreich. Dieses Datum ist historisch verbrieft, ebenso wie die Tatsache, dass Philipp das verräterische Komplott gegen die Templer von langer Hand generalstabsmäßig vorbereitet hatte, und die Überfälle auf die Ordensritter überall in Frankreich noch am gleichen Tag, wenige Stunden, nachdem der König die Templerburg verlassen hatte, ausgeführt wurden. Ein Handstreich von ungeheuerer Gemeinheit und Brutalität, mit dem sich ein schwacher Monarch über Nacht nicht nur seiner Schulden bei den Templern entledigte, sondern darüber hinaus noch deren gewaltiges Vermögen an sich riss und den vollkommen Untergang dieses stolzen und mächtigen Ordens in die Wege leitete.

Wie Sebastian aus der Kirchenchronik weiter erfuhr, erreichte Maria die Ermordung ihres Geliebten „am Tage der Geburt unseres Herrn“. Der Überbringer der schrecklichen Nachricht war Pater Angelus, ein Mönch des nahe gelegenen Franziskanerklosters. Der fromme Bruder war zeitweise der Erzieher des jungen Joseph und hat sich in der Folge trotz ihres sündigen Lebenswandels um Maria gekümmert, wenn der Ritter abwesend war. Er beschwört die Frau, das Haus unverzüglich zu verlassen, denn sie und ihr Kind seine jetzt in höchster Gefahr, und niemand könne mehr für ihre Sicherheit sorgen. Der Ausweglosigkeit ihrer Lage gewahr, bittet Maria den Mönch, ihren Sohn unverzüglich ins Kloster mitzunehmen. Sie selbst wolle schnellst möglich nachkommen. So sei der Knabe in sichere Obhut gelangt, berichtet der Chronist, „…doch für des Weibes arme Seele gab es keine Rettung.“

Zwei Tage nach der Heiligen Nacht habe der Landvogt seine Schergen ausgeschickt, um „die ketzerische Hure und ihr Balg“ abzuholen. Der Scheiterhaufen auf dem Marktplatz war bereits aufgeschichtet. Als die Soldaten in das Haus eindringen, finden sie eine tote Frau auf dem Boden liegen, ein Messer in der Brust. Kurzerhand stecken sie das Haus samt der Leiche in Brand. Um die ausgebrannte Ruine kümmerte sich niemand mehr, und um das Grundstück machten „die abergläubischen Bauersleut“ fortan einen großen Bogen.

„Eine böse Geschichte“, kommentierte der Küster mit ernster Mine, nachdem Sebastian am Ende des Buches angekommen und dem Alten das bis dahin zusammengefügt Puzzle vorgetragen hatte. Sebastian war tief berührt von der Geschichte – und unzufrieden zugleich. Es war wie ein Fortsetzungsroman, bei dem ihm die letzte, entscheidende Episode vorenthalten wurde. „Irgendwie muss es doch weiter gegangen sein“, wandte er sich Hilfe suchend an Alois, „sonst gäbe es das Haus, so wie es dort steht, heut nicht.“

„Das ist wohl richtig“, sagte der Mann mit geheimnisvollem Unterton, während er den Folianten sorgfältig im Regal verstaute. „Nun gut“, sagte er schließlich, „Sie waren sehr fleißig, Professor, und wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen von den Ereignissen, die sich später zugetragen haben – soweit sie mir bekannt sind.“

Sebastian sah den Alten ungläubig an. Sollte der all das, was er in den letzten Wochen und Monaten in minutiöser Kleinarbeit mühsam zusammengetragen hatte, etwa alles schon gewusst haben? Unglaublich! Das konnte dieses zahnlose Kirchengespenst doch nicht mit ihm machen. Sebastian spürte die Zornesröte auf seinen Wangen. Doch er behielt die Beherrschung. Das Wissen, das der Alte ihm noch geben konnte, war ihm wichtiger als seine Empörung über dessen Hinterlist.

„Ja“, sagte er heiser, „selbstverständlich bin ich daran interessiert zu erfahren, wie es dann weiterging.“

Der Küster, dem Sebastians Erregung nicht entgangen war, kicherte hämisch. „Gut, gut“, schnarrte er, „dann spitzen Sie mal schön die Ohren, und meinetwegen auch den Bleistift. – Also“, begann er bedächtig, „wie uns die Chronik berichtet, machten die Leute eine großen Bogen um das Grundstück. Niemand wollte es haben, schon gar nicht die Ruine des Hauses, in der die Frau verbrannte. Erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts kam ein Fremder in die Stadt und bekundete sein Interesse, die Liegenschaft am See kaufen zu wollen. Der Schultheiß war froh, den Schandfleck vor den Toren der Stadt endlich loszuwerden, und überließ dem Käufer das Grundstück mit Ruine für wenig Geld.

Der Fremde war, wie sich später herausstellen sollte, ein Angehöriger der Familie von Zimmern. Dieser Nachfahre des Kreuzritters Joseph hat das Haus auf den Grundmauern der Ruine im Stile seiner Zeit wieder aufbauen lassen. Er wird wohl auch veranlasst haben, das denkwürdige Datum in Stein zu meißeln. Mehrere Generationen lebten darin bis vor etwa 20 Jahren der letzte Spross der Sippe verstarb. Seitdem steht das Haus leer und verfällt immer mehr.“

Nach einer kurzen Pause, die er nutzte, um Sebastians staunenden Gesichtsausdruck zu studieren, fuhr des Küster bedeutungsvoll fort. „An zwei Tagen im Jahr wird die Ruhe des Hauses gestört. Dann brennt drinnen Licht und Rauch steigt aus dem Kamin…“

„Der eine Tag ist der 13. Oktober, ich weiß“, unterbrach Sebastian die Rede. „Und welches ist der zweite Tag?“

Mit stechendem Blick fixierte der Alte Sebastian. „Müssen Sie mich das wirklich fragen? Können Sie sich nach allem, was Sie wissen, die Antwort nicht selbst geben?“

„Am Tage der Geburt unseres Herrn“, stieß Sebastian hervor. „Mein Gott, warum bin ich nicht gleich darauf gekommen?“ Eine Antwort auf diese Frage hatte er auch. Im letzten Jahr war er über Weihnachten verreist. Er konnte das Licht am Heiligabend nicht gesehen haben. Doch diese Zeitangabe in der Chronik ließ keine Zweifel aufkommen. Es musste der 24. Dezember sein.

Alois nickte zufrieden. „Sehen Sie, es ist doch ganz einfach. Aber bedenken Sie. An diesen beiden Tagen spukt es im Haus und man darf ihm unter keinen Umständen zu nahe kommen, sagen die Leute.“

„Und was sagen Sie?“

„Ach Professor, ich bin ein alter Mann und habe gar nichts zu sagen. Ob es dort drinnen spukt, weiß ich nicht, und ich verspüre auch keine Lust, es herauszufinden.“

Aber ich, dachte Sebastian in diesem Moment, ich werde es herausfinden. Weihnachten ist nicht mehr fern, und dann werde ich der Sache ein für alle Mal auf den Grund gehen. Freundlich verabschiedete er sich von dem Alten und dankte ihm noch einmal von Herzen für dessen Unterstützung.


In der Nacht vom 23. zum 24. Dezember bezog Sebastian in gespannter Erwartung den Beobachtungsposten in seiner Wohnung. Ungeduldig blickte er auf die Uhr. Nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Was würde geschehen? Vom Kirchturm herüber schlug es 12 mal. Endlich. Alle Uhren im Raum waren sich einig. Der 24. Dezember war da – und es geschah nichts. Das kleine, verschneite Haus dort unten blieb dunkel. Sollte er am Ende doch einem Märchen aufgesessen sein? Nein, der Hinweis im Kirchenbuch war eindeutig, und Alois war nicht der Mann für solche Scherze. Es konnte ja auch der 25. gemeint sein. Natürlich, so wird es sein.

Der Tag schleppte sich dahin, ebenso wie der Abend bei Bekannten. Sie hatten darauf bestanden, dass es nicht gut sei, am Heiligabend alleine zu sein, und ihn zum Essen eingeladen. Er wäre zwar lieber alleine geblieben, doch er schämte sich, diese wohlmeinende Einladung auszuschlagen. Hätte er es nur getan. Es gab Karpfen – er konnte Karpfen nicht ausstehen, quengelnde Kinder – die mochte er noch weniger, unsinnige Geschenke – das war zu befürchten und entsetzlich langweiligen Smalltalk – davon bekam er Magenschmerzen. Plötzliches Unwohlsein vortäuschend bat er um Verständnis für seine Appetitlosigkeit und für seinen Wunsch, sich frühzeitig verabschieden zu dürfen. Als er das gastliche Haus verlasse hatte und draußen die frische Schneeluft einatmen konnte, war ihm schlagartig wohler. In dieser Runde würde er gewiss keinen Heiligabend mehr verbringen.

Zu Hause angekommen, machte er es sich gemütlich. Aus seinen Vorräten im Kühlschrank bereitete er sich einen kleinen Imbiss, öffnete eine Flasche Wein und wartete darauf, dass es endlich wieder Mitternacht würde. Seine Gedanken waren bei Joseph und Maria, bei dem alten Küster Alois und dem kleinen Haus dort unten. Würde heute geschehen, worauf er wartete? Er war bereit. Bereit und entschlossen, in dieser Nacht dem Geheimnis des Hauses auf den Grund zu gehen – wenn es denn eines gab.

Der leichte Schneefall, der ihm auf seinem Nachhauseweg kurzfristig doch noch zu einer Art Weihnachtsstimmung verhalf, hatte inzwischen deutlich zugenommen. Dichte Flocken legten ihren weißen Zauber über die Stadt, und Sebastian blickte hinunter auf ein vom matten Licht der Gaslaternen romantisch illuminiertes Winteridyll. Im Halbschatten weiter hinten, das kleine, alte Haus, wie ein Gemälde von Caspar David Friedrich.

Die Zeit wollte nicht vergehen, und Sebastians Anspannung wuchs ins Unerträgliche. Endlich war es dann so weit. Die Zeiger der Uhren zeigten auf Mitternacht und der zwölfmalige Glockenschlag vom Kirchturm stimmte zu. In dem Moment klingelte das Telefon. Sebastian, mit jeder Faser auf das Haus dort untern konzentriert, fuhr erschrocken herum und hätte beinahe das Weinglas fallen lassen. Fassungslos lang starrte er den Apparat an, der störender nicht hätte sein können als in diesem Moment. Telefonieren? Jetzt, ausgerechnet jetzt? Ausgeschlossen! Der Anrufbeantworter setzte sich in Gang und Sebastian wandte sich wieder dem Fenster zu. Die lallende Stimme eines alten Freundes, der wie so oft an solchen Tagen seinen romantischen Weltschmerz in einer Flasche Wodka ertränkt hatte und nun meinte, sein geschundenes Herz ausschütten zu müssen, nahm er nicht mehr wahr.

Aus den vernagelten Fenstern des alten Hauses drangen schmale Lichtstrahlen, der Kamin rauchte. Sebastian musste sich setzen. Mit zitternden Händen stellte er das Glas beiseite und zündete sich eine Zigarette an.

„Mein Gott, es ist wahr“, sagte er halblaut zu sich selbst. „Ich hatte es gehofft und ich hatte meine Zweifel…, jetzt ist es da.“

Er öffnete die Terrassentür und trat hinaus in die kalte Nacht. Unter auf der Straße stapften einige Figuren durch den Schnee. Wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zur Christmette in der alten Kirche. Sie werden sich verspäten, dachte Sebastian, aber sie werden verschwunden sein, bis ich unten bin. Er zog sich warm an und steckte Notizbuch, Stift und vorsichtshalber einen kleinen Fotoapparat in die Manteltaschen. Man konnte ja nie wissen. Die Sorgfalt, die er dabei trotz seiner inneren Erregung an den Tag legte, erstaunte ihn selbst.

Dann stand er auf dem verschneiten Gehweg und sah sich prüfend um. Keine Menschenseele war zu sehen. Gemäßigten Schrittes, wie ein ganz normaler Spaziergänger, der noch ein wenig frische Luft schöpfen wollte, machte er sich auf den Weg. Er genoss die Stille des Schnees, die nur durch das regelmäßige Knirschen seiner Fußtritte unterbrochen wurde. Nach wenigen Metern bog er in die schmale Nebenstraße ein, die zum alten Haus führte. Er versuchte darüber nachzudenken, wer ihn dort wohl erwarten könnte, was er sagen oder tun würde, wenn dort jemand wäre… Doch so sehr er sich auch mühte, ein klarer Gedanke wollte nicht in seinen Kopf kommen. Dann stand er auch schon vor der brüchigen Gartentür, die er vor einigen Wochen bereits durchschritten hatte. Damals war nichts zu sehen, aber es war ja auch ein Tag später. Heute war er zur rechten Stunde hier. Der Schnee vor und hinter dem Eingang lag unberührt. Keines Menschen Fuß hatte die Pforte durchschritten.

Es kostete ihn einige Anstrengung, das Türchen gegen den Schnee so weit nach hinten zu drücken, um durchschlüpfen zu können. Vorsichtig näherte er sich einem Fenster und versuchte, zwischen den Ritzen der vorgenagelten Bretter zu erkennen, was sich drinnen abspielte. Nichts zu sehen. Vermutlich waren die Fenster so blind, dass man nicht mehr durchsehen und nur noch ein matter Lichtstrahl nach außen dringen konnte. Nachdem er das Haus umrundet und an keiner Stelle einen Blick nach innen werfen konnte, hielt er vor der Eingangstüre inne. Sebastian spürte seinen Herzschlag am Hals. Bedächtig steckte er seine Hand zwischen den Bohlen hindurch und erfasste die Türklinke. Nach kurzem Zögern drückte er sie nach unten. Die Tür öffnete sich knarrend einen Spalt breit. Erschrocken zog Sebastian seine Hand zurück. Sein Herzschlag schien ihm unerträglich laut. Mehrmals atmete er tief durch. „Es ist eine alte Geschichte“, versuchte er sich zu beruhigen, „was hier geschehen ist, liegt 700 Jahre zurück. Es gibt keine Gespenster, höchstens Halluzinationen. Du bist ein Mensch des 21. Jahrhunderts und du vertraust auf deinen gesunden Menschenverstand. Es gibt für alles eine Erklärung.“

Es half. Er wurde ruhiger, sein Herzschlag normalisiere sich und auch sein Atem. Dann zog er entschlossen an einer Holzplanke. Die rostigen Nägel gaben nicht mehr viel Halt, und so konnte er ohne größere Mühe drei der dicken Bretter lösen und so weit zur Seite schieben, dass der Eingang frei wurde. Die schwere Eichentür drückte er unter Ächzen und Knarren so weit auf, dass er den größten Teil des Raumes einsehen konnte.


Im Kamin prasselt ein freundliches Holzfeuer, dicke Kerzen auf dem Tisch und in Wandhaltern verbreiten ein warmes Licht, Auf dem einfach gezimmerten Tisch stehen ein Krug, zwei Becher und eine große Schale, davor zwei Stühle mit hohen Lehnen. Mehr ist nicht zu sehen. Sebastian tritt ein und prüft sogleich den Teil des Raumes hinter der Tür. Nichts, niemand. Langsam nähert er sich dem Tisch. Die beiden Becher und der Krug sind gefüllt mit Wein. Er hält einen Becher unter die Nase und kostete. Lieblicher Wein, zu süß für seinen Geschmack, aber trinkbar. Noch mehr staunt Sebastian über die Backwaren, die er in der Schale vorfindet. Lebkuchen, frische, sehr aromatisch duftende Lebkuchen. Sebastian nimmt ein Stück und beißt hinein. Eine wahre Köstlichkeit, stellt er genießerisch fest. Dazu passte durchaus der süße Wein, von dem er jetzt einen weiteren Schluck nimmt.

Kauend steht Sebastian neben dem Tisch und lässt seine Blicke durch den Raum wandern. Nichts Auffälliges zu sehen, irgendwie gemütlich hier. Plötzlich stellt er den Becher geräuschvoll auf den Tisch und wirft den angebissenen Lebkuchen zurück in die Schale. Links neben dem Kamin erkennt er jetzt einen Durchgang, den er eingangs nicht einsehen konnte, die Tür halb geöffnet. Und dann hört er von dort die verführerische Stimme einer Frau:

„Bist du’s, mein Geliebter?“

Sebastian verschluckt sich an den Lebkuchenresten, die er noch im Mund hat, und wird von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Endlich bekommt er wieder Luft und spült mit einem kräftigen Schluck Wein nach.

„Komm zu mir! Komm zu mir!“ seufzt erneut die Frauenstimme hinter der Tür. „Wann kommst du endlich?“

Ein Schauder, wie er ihn noch nie verspürte, erfasst Sebastian. Er spürt die Gänsehaut am Nacken, ein Zittern durchlief den ganzen Körper. Sebastian wollte gehen, so schnell wie möglich dieses Haus verlassen. Weg von diesem Ort! Doch er kann nicht.

Wie von magischer Hand gezogen, geht er auf den Durchgang zu und drückt die Tür auf. Der kleine Raum ist mit wenigen Kerzen schwach erleuchtet. Von der gegenüberliegenden Wand aus ragt ein großes Bett mit breitem Baldachin bis in die Mitte des Raumes. Dort erkennt Sebastian im flackernden Dämmerlicht die Gestalt einer jungen Frau. Den entblößten Oberkörper aufrecht gegen das Kopfkissen gelehnt, gelockte, rote Haarsträhnen, die über Schultern und Brüste fallen, die Arme flehend nach vorne gestreckt. Unfähig, den einladenden Gesten der Frau zu widerstehen, bewegt sich Sebastian langsam auf das Bett zu. Jetzt kann er ihren jungen Körper in gänzlicher Nacktheit sehen und ist sich sicher, niemals im Leben einer so vollkommenen Schönheit begegnet zu sein.

Als er neben ihr am Bett steht, dreht sie ihren Kopf zur Seite und lächelt ihn an. „Komm“, haucht sie, „komm, es ist Zeit.“

Sebastian streckt seine Hand aus. In dem Augenblick als er meint, die Hand der Frau zu berühren, gibt es eine heftige Explosion. Sebastian wird durch die Durchgangstür in den vorderen Raum katapultiert, wo er mit voller Wucht erst mit der Schulter, dann mit dem Kopf auf die Steinfliesen aufschlägt und das Bewusstsein verliert. Beißender Qualm und große Hitze umgeben ihn, als er die Augen wieder öffnet. Das Haus steht lichterloh in Flammen. Mit letzter Kraft schleppt er sich zur Haustür und wirft sich in den Schnee. Von weitem hört er noch das Tatütata der Feuerwehr, dann ist absolute Stille.


Allmählich fand Sebastian ins Leben zurück. Er lag im Krankenhaus. Keine Ahnung, wie lange er hier schon war. Sicher nur, dass Kopf und linke Schulter bandagiert waren und höllisch schmerzten. Nach geraumer Zeit wurde ihm bewusst, dass jemand seine Hand hielt. Mühsam drehte er sein geschundenes Haupt und blickte nach oben. Es war Alois, der alte Küster, der ihn glücklich anlächelte und dabei sanft die Hand streichelte.

„Danke“, sagte er, „danke Professor. Ich wusste, Sie würden es tun. Sie waren entschlossen und unbefangen und reinen Herzens. Sie haben die arme Seele erlöst – und uns auch. Von Herzen danke und – Frohe Weihnachten.

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