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Was denken wir über das Denken? Mysteriöse Gehirnleistungen
Von Hans-Jörg Müllenmeister
Nichts gibt dem Denken so sehr zu denken wie das Denken selbst: In jedem Augenblick entfaltet sich ein faszinierendes Zusammenspiel von Neuronen in unserer Großhirnrinde. Diese Nervenzellen – unsere „Denkatome“ – existieren in atemberaubender Anzahl: 100 Milliarden Mal in unserem Gehirn.
Sie empfangen, verarbeiten und leiten Informationen weiter zu den Synapsen, den Verbindungsstellen zwischen den Zellen. Bis zu 10.000 Synapsen sitzen auf einer Nervenzelle, 100 Billionen sind es insgesamt. Diese verknüpfen jede Zelle mit vielen anderen und schaffen so ein weitreichendes elektrochemisches Kommunikationsnetzwerk.
Es gibt keine zentrale Denkstelle, die einzelne Gedanken produziert. Vielmehr entsteht ein Gedanke gleichzeitig im gesamten Gehirn. Gedanken sind demnach das Ergebnis des gesamten Synapsen-Netzwerks und werden als Teamleistung hervorgebracht. Dabei handelt es sich um eine gewaltige Menge elektrischer Signale, die sich wie ein „Gedankenblitz“ in unserem Kopf ausbreiten.
Wir wollen jedoch nicht tief in das komplexe, noch kaum verstandene Gehirn eindringen, sondern uns auf die Gedanken selbst konzentrieren. Dabei werfen wir einen Blick auf Gehirnimplantate und auf das Phänomen der „Inselbegabung“, bei dem selbst ein geschädigtes Gehirn Außergewöhnliches leistet.
Die Faszination des Denkens
Die Vielschichtigkeit unserer Denkstube ist angesagt: Jeder Gedanke, den wir haben, ist das Ergebnis eines hochkomplexen Zusammenspiels von Nervenzellen und Synapsen. Unser Gehirn nimmt ständig Informationen auf, verarbeitet diese und leitet sie weiter. Das ermöglicht uns, zu reflektieren, zu planen, kreativ zu sein und auch zu träumen. Dank unseres Denkvermögens können wir über unsere eigenen Gedanken und Handlungen nachdenken. Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion ist der Schlüssel des menschlichen Bewusstseins und der persönlichen Weiterentwicklung. Sie hilft uns, aus bewahrten Erinnerungen und Erfahrungen zu lernen. So können wir aus vergangenen Erlebnissen Schlüsse ziehen und sie erneut erleben. Wir können so komplexe Entscheidungen treffen, Risiken abwägen und die besten Handlungsoptionen wählen. Das ist entscheidend für unser Überleben und unseren Erfolg in einer sich ständig verändernden Welt. Nicht zuletzt ist das Denken auch die Grundlage für Erfindungen und wissenschaftliche Durchbrüche.
Den Gedanken auf der Spur
Genau betrachtet, ist unser Gehirn gerade deshalb so effizient, weil es eben nicht wie ein Computer funktioniert. Es speichert Gedanken und Erinnerungen nicht wie Dateien in einem Rechner. Vielmehr ist es eine Art Hardware, die sich ständig umbaut und so Erfahrenes speichert. Chemische Botenstoffe wie Glutamat, Dopamin und Serotonin übernehmen die Übertragung von Signalen zwischen Neuronen und beeinflussen, wie Informationen verarbeitet und gespeichert werden. Veränderungen in der Stärke und Struktur von Synapsen erfordern die Produktion neuer Proteine, die eine langfristige Speicherung von Informationen unterstützen. Diese Informationen können parallel und auf vielfältige Weise zugleich verarbeitet werden.
Zugleich optimiert sich das Gehirn laufend selbst: Synapsen, die ein wichtiges Signal übermitteln, werden gestärkt, andere dafür geschwächt. Ein Gedanke wirkt wie ein Hans Dampf in allen „Gehirnpfaden“ und tritt über das ganze Gehirn verstreut in Erscheinung. Neue Informationen werden integriert und in Form von Gedächtnisspuren gespeichert. Eine Unmenge elektrischer Signale breitet sich dabei gleichzeitig in unserem Kopf aus. Wie jedoch das Gehirn aus diesen unzähligen Reizen einen zusammenhängenden Eindruck kreiert, das ist bis heute ein ungelöstes Rätsel. Die Forscher wissen nur, dass jeder Gedanke mit einem eigenen „Gedankenabdruck“ der Gehirnaktivität einhergeht. Tatsächlich ist es seit einiger Zeit möglich, solche Aktivitätsmuster sichtbar zu machen, die für bestimmte Gedanken charakteristisch sind.
Synaptische Plastizität und Neuroplastizität
Physikalisch betrachtet, ist das Denken ein elektrochemischer Prozess, bei dem Neuronen im Gehirn durch Stimulation äußerer Einflüsse erregt werden. Diese Signale werden insbesondere im präfrontalen Cortex verarbeitet, der für höhere kognitive Funktionen wie Denken, Planen und Problemlösungen verantwortlich ist. Aber ist das Denken bloß ein elektrochemischer Prozess, wenn es diese Signale integriert zu einem zusammenhängenden (kohärenten) Gedanken – gebildet durch das Zusammenspiel verschiedener neuronaler Netzwerke? Bleibt da nicht auch die Frage nach dem Charakter und der Seele? Steckt da mehr dahinter als wir es uns vorstellen können?
Der Placeboeffekt – Heilsames Trugbild unserer Gedanken
Es ist ein faszinierendes Phänomen, das zeigt, wie mächtig unsere Gedanken und Überzeugungen auf unseren Körper wirken können. Nachweislich löst der Placeboeffekt tatsächlich Veränderungen im Gehirn aus, wie etwa die Vorstellung von Schmerzreduktion. Dadurch werden Endorphine und andere Neurotransmitter freigesetzt, die das Wohlbefinden steigern. Positives Denken hat also einen tiefgreifenden Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden.
Wenn das Gehirn aus den Fugen gerät
In seltenen Fällen können Menschen nach einer Hirnverletzung oder einem Schlaganfall plötzlich außergewöhnliche Fähigkeiten entwickeln. Es gibt Berichte von Menschen, die nach einem Unfall plötzlich zu herausragenden Künstlern, Musikern oder Mathematikern wurden, obwohl sie zuvor keine besonderen Talente in diesen Bereichen hatten. Oder sie entwickeln nach einer Hirnverletzung die Fähigkeit, Sinne auf ungewöhnliche Weise zu verknüpfen. Zum Beispiel können sie Farben sehen, wenn sie Musik hören, oder Buchstaben und Zahlen mit bestimmten Farben oder Geschmäckern verbinden. Wieder andere entwickeln nach einer Hirnschädigung ein phänomenales Gedächtnis, indem sie sich an extrem viele Details und Daten erinnern, die sie einmal gesehen oder gehört haben.
Die genauen Mechanismen hinter diesen Phänomenen sind keineswegs verstanden, sie zeigen aber, wie erstaunlich und anpassungsfähig das menschliche Gehirn sein kann. Obwohl solche Fähigkeiten außergewöhnlich und selten sind, geben sie uns einen faszinierenden Einblick in die unglaublichen Potenziale unseres Gehirns. Bei einer Hirnverletzung kann es vorkommen, dass das Synapsen-Netzwerk in einem Ruck plötzlich neu verschaltet wird. Dieses Umstrukturieren der neuronalen Verbindungen kann in seltenen Fällen zu erstaunlichen und unerwarteten Fähigkeiten führen. Nach einer Verletzung können ungenutzte oder weniger genutzte Bereiche des Gehirns aktiv werden und neue Funktionen übernehmen. Das Gehirn ist nämlich äußerst anpassungsfähig und besitzt die Fähigkeit, sich neu zu organisieren und neue Verbindungen zu bilden. Man bezeichnet das als neuronale Plastizität. Diese neuen Verknüpfungen könnten außergewöhnliche kognitive oder kreative Fähigkeiten ermöglichen. So könnte ein Unfall die chemische Umgebung im Gehirn verändern, was wiederum die Funktionsweise der Neuronen und Synapsen beeinflussen könnte.
Alois Irlmaier – Hellsichtig durch ein Trauma
Obwohl es keine wissenschaftlichen Beweise für Hellsichtigkeit gibt und solche Fähigkeiten mit Skepsis zu betrachten sind, gibt es faszinierende Beispiel dafür, wie wenig wir über das Potenzial des menschlichen Gehirns und die Wirkung extremer Erfahrungen wissen.
Von Alois Irlmaier, einem Bauern und Brunnenbauer aus Oberbayern, erzählt man, dass er seine Hellsichtigkeit nach einem traumatischen Erlebnis erhielt, bei dem er im Ersten Weltkrieg vier Tage lang ohne Nahrung in Russland verschüttet war. Danach hatte er Visionen von Geschehnissen und Menschen. Im Zweiten Weltkrieg sorgte Irlmaier dann öffentlich für Aufsehen, als er genau die Orte beschrieb, an denen später Bomben einschlugen. Zudem offenbarte er die Aufenthaltsorte vermisster Soldaten. Selbst zu den heutigen Smartphones soll sich Alois Irlmaier früh geäußert haben. So wird ihm die Aussage zugeschrieben, dass Menschen „mit einer Zigarettenschachtel telefonieren und damit spielen“ werden.
Wegen seiner unterstellten „betrügerischen“ Fähigkeiten zog man ihn sogar vor Gericht. Der Richter tat sich schwer, ein Urteil zu fällen. Daraufhin schlug Irlmaier ihm vor, ein Polizist möge doch mal des Richters Haus aufsuchen, denn dessen Frau „würd’ grad mit oinem schnackseln“ – sich also erotisch vergnügen. Genau das bestätigte sich. Daraufhin schloß die Verhandlung mit einem Freispruch in allen Anklagepunkten für Irlmaier.
Mathe- und Sprachgenie Daniel Tammet
Es gibt einige interessante Berichte über Menschen, die nach Gehirnverletzungen ähnliche außergewöhnliche Fähigkeiten ausgelöst haben wie einst bei Irlmaier. Nach einem schweren Autounfall entwickelte Daniel Tammet die Fähigkeit, komplexe mathematische Berechnungen blitzschnell durchzuführen und mehrere Sprachen zu sprechen. Er ist z.B. dafür bekannt, dass er die Zahl Pi bis zur 22514 Stelle auswendig kennt. Sie werden sich wohl fragen: Wozu braucht man überhaupt so eine hohe Genauigkeit? In der Astronomie sind präzise Berechnungen essentiell, um die Bahnen von Planeten und Sternen zu berechnen oder die Struktur des Universums zu verstehen.
Alonzo Clemons erlitt eine Hirnverletzung im Alter von 16 Jahren, die ihn fast das Gedächtnis kostete. Nach seiner Genesung entwickelte er jedoch eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Bildhauerei und schuf beeindruckende Skulpturen, die oft als Meisterwerke betrachtet werden.
Diese „Unfälle“ zeigen, wie das Gehirn in außergewöhnlichen Situationen neue Wege finden kann, um sich anzupassen und sich zu regenerieren. Das menschliche Gehirn ist eben unglaublich anpassungsfähig und komplex. Hirnverletzungen, insbesondere im Bereich des Frontallappens, können aber auch die Impulskontrolle und das Sozialverhalten beeinträchtigen. Dies kann zu erhöhter Aggressivität und impulsivem Verhalten führen. Menschen mit Hirnverletzungen können enthemmtes Verhalten zeigen, das sozial unangemessen oder sogar kriminell ist. Dies reicht von verbalen Ausbrüchen bis hin zu körperlichen Übergriffen.
Zukunfts-Chip im Gehirn
Die Vorstellung von Gehirnimplantaten, die gezielt das Wissen und die kognitiven Fähigkeiten verbessern, ist ein heikles Zukunftsthema. Es gibt bereits einige Fortschritte in diesem Bereich, besonders durch die Entwicklung von neuralen Schnittstellen und Brain-Computer Interfaces (BCIs). Diese Implantate, die Menschen mit neurologischen Erkrankungen helfen, zum Beispiel Implantate für Hörgeschädigte oder Tiefenhirnstimulation für Parkinson-Patienten. Forscher arbeiten fieberhaft an Technologien, die das Gedächtnis verbessern oder sogar direktes Lernen zulassen, und zwar durch Stimulation bestimmter Gehirnregionen.
Firmen wie Neuralink – gegründet von Elon Musk – arbeiten an fortschrittlichen BCIs, die theoretisch eines Tages die Speicherung und den Abruf von Informationen im Gehirn verbessern. Es gibt jedoch zahlreiche ethische, rechtliche und sicherheitstechnische Fragen, die geklärt werden müssen, bevor solche Technologien in die Welt gesetzt werden.
Die Schnittstelle zwischen Gehirn und Chip stellt eine enorme Herausforderung dar. So muss das Material des Chips biokompatibel sein, um Entzündungen und Abstoßungsreaktionen im Gehirn zu vermeiden. Die Kommunikation zwischen Neuronen und elektronischen Geräten ist komplex muss präzise interpretiert und übertragen werden, um funktional zu sein; dies erfordert hochsensible und präzise Sensoren. Besonders wichtig ist die Langzeitstabilität von Implantaten, die tief im Gehirn platziert sind. Effektive Algorithmen und Hardware sind notwendig, und es muss gewährleistet sein, dass die Daten vor unerlaubtem Zugriff und Missbrauch geschützt sind.
Und die Moral hinter dem „Denken lassen“
Die Crux ist: Wir haben bald alles an der Hand, um damit den eigenen Untergang einzuleiten. Die Vorstellung, dass wir eines Tages Menschen nach Belieben „herstellen“ könnten, ist faszinierend und beängstigend zugleich. Es wirft viele ethische, moralische und philosophische Fragen auf. Die Möglichkeit, das menschliche Gehirn und seine Denkfunktion so präzise zu manipulieren, bringt enorme Vorteile, aber auch erhebliche Risiken und birgt ein hohes Missbrauchspotenzial. Die Balance zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und ethischer Verantwortung ist entscheidend. Es besteht die extreme Gefahr, dass die Menschheit damit in ein modernes Sklaventum der Unfreiheit und Ungleichheit geraten kann – weitaus schlimmer als im alten Rom.
Eine geistige Katharsis wäre ein hehres Ziel, aber das erfordert umfassende Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen und in den Werten. Nur eine geistige Reinigung oder Läuterung des Geistes könnte den Weg zu einer Gesellschaft ebnen, die sich ihrer eigenen Schwächen und Gefahren bewusster ist und gezielt daran arbeitet, diese zu überwinden. Sollte die Menschheit sich aber selbst auslöschen, könnte die Schöpfung gern über einen neuen Versuchsaufbau „Mensch“ nachdenken.
Schlussgedanken
Wie Gedanken genau entstehen, ist immer noch eines der größten Rätsel der Wissenschaft. Banal fragt dagegen unser Zeitgeist: Wozu noch denken, wenn die Gedankenlosigkeit kaum noch einem zu denken gibt? Bleibt die Biene, die auf ihre Art denkt wie einst der denkfleißige französische Philosoph Descartes: „Cogito, ergo sum, sum, sum“.