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Tragik und Weisheit – kleiner philosophischer Diskurs

Von Hans-Jörg Müllenmeister

Über den Sinn und Wert von Tragik und Weisheit nachzudenken, grenzt ans Philosophische. Die Historie zeigt vielschichtige tragische Schicksale, denn Kriege, Krankheiten und Katastrophen bezeichnet man im modernen Sprachgebrauch als „tragisch“. Hier wollen wir über die Tragödien im philosophischen Sinne sprechen.

Nur soviel zu den tragischen Schicksalen: Allein durch Kriege starben im Jahr 2022 weltweit über 238.000 Menschen. Soviel wie nie zuvor in diesem Jahrhundert. Allein im II. Weltkrieg mußten 65 Millionen Menschen ihr Leben lassen. Auch die Pest hat im Laufe der Geschichte Millionen von Menschenopfern hinweg gerafft; im 14. Jahrhundert tötete der „schwarze Tod“ schätzungsweise 50 Millionen Menschen.

Tragik, gestern und heute

In der griechischen Tragödie begegnet uns eher eine tiefsinnige Einstellung zum Tragischen, etwa bei Euripides im individuellen Seelenkampf der Iphigenie. Hier steht der Mensch als Marionette in einem unentrinnbaren Schicksal.

Mit Recht könnte man behaupten, dass das, was wir als tragisch empfinden, der Zeitgeist dogmatisch festlegt – als einen historisch wandelbaren Deutungszusammenhang. Damit wäre der Moralbegriff einer steten Verformung im Zeitenwechsel unterworfen. Faust-Schülerszene: “Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein“ oder Faust im Gespräch mit Wagner: “Das Pergament (das Althergebrachte), ist das der heilige Bronnen, woraus ein Trank den Durst auf ewig stillt“? 

Tragische Ereignisse belehren uns nicht über das Wesen des Tragischen. Indes erkennen wir die Wirkung tragischer Konfliktsituationen auf die Gefühls- und Geistessphäre, denn das Gemüt wird traurig gestimmt. Ein waches mitschwingendes „Ich“ gehört zum Auffangen tragischer Information: Die Tragödie wird erst im „Ich“ bewusst; es reguliert die Selbstempfindung. 

Ist das Universum der Urquell des Tragischen? 

Ein unbeseeltes, materielles Universum wäre von untragischem Naturell. Das Tragische kann in einer unreflektierten, wertfreien Welt kaum existieren. Erst in der Sphäre von Werten und Wertgegensätzen, wo die Pole „Edel – Gemein“ aufeinander stoßen, kommt es zu tragischen Erscheinungen. Das Phänomen des Tragischen selbst ist wertfrei, es ist vielmehr wertgebunden an tragische Ereignisse. Erst durch die notwendige Bedingung eines Wertträgers setzt sich die Tragik in Szene. Aber erst das dynamische Gegeneinanderwirken von Wertträgern, das turbulente Aufeinanderprallen von Gegensätzen, schafft die hinreichende Bedingung für einen tragischen Akt.

Ist demnach das Chaos der Ursprung des Tragischen? Dann wäre in der Entstehung der Welt der Urquell der Tragödie zu finden: Elemente fanden und überwanden sich, sie zogen einander an und stießen sich ab, um zuletzt zu einem harmonischen Gefüge aufzugehen.  

Ohnmacht und Resignation: Attribute der Tragik 

Das harmonische Moment ist aber gerade das, was aus logischer Konsequenz kein Attribut der griechischen Tragödie ist. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, stösst man auf ein Etwas, das Harmonie und Ordnung aus dem Chaos stiftet. Ob Schöpfer, Gott oder Weltgeist, dieses Verborgene muss von einer ordnenden Kraft beseelt sein, einer Kraft im konstruktiven Sinne. Diese Kraft kann auf einen Wert einwirken, damit das Tragische in Erscheinung tritt. Dass Chaos aber als „Wertträger“ besitzt keine Rangordnung. Somit lässt sich das als Tragisch definieren, wo ein Widerstreit zwischen Trägern positiver Werte entsteht, derart, dass die vernichtenden Kräfte selbst von positiven Werten ausgehen. Wahre Tragik schliesst die Möglichkeit einer Lenkung in Richtung des Abwendens einer Katastrophe aus; die Ohnmacht, das „Nicht-anders-können“, das schicksalhafte Verstricken im Netz des Unabwendbaren, das alles verleiht dem Tragischen seinen düsteren Wesenszug.

Oft ist das schicksalhafte schuldig werden, also die Schuldfrage gemeinhin der Kernpunkt der Griechischen Tragödie. Das Maß der Schuld ist also nie durch eine Norm oder durch ein Kollektivgesetzt festgelegt. Im menschlichen Bereich, also überall wo der “freie Akt“ der Entscheidung als notwendig vorausgesetzt werden kann, wird im Verlauf der tragischen Ereignisse das Unheil bewusst wahrgenommen. Dem Übel, das den Untergang heraufbeschwört, wird ein verzweifelter Kampf angesagt. Mit allen Kräften wird die hereinbrechende Katastrophe bekämpft, gleichwohl in der bösen Vorahnung, dass der Zusammenbruch und restlose Untergang nicht mehr aufzuhalten ist. Was aber ist der „Kulminationspunkt“ der Tragödie? Ist es der Friede, die Ausgeglichenheit, der notwendige, erzwungene Verzicht oder die Fügung ins Unvermeidbare? Gerät am Ende die Tragödie in die Sackgasse der Resignation? 

Der Grenzwert Weisheit im menschlichen Bereich 

Aristoteles findet in der Resignation die „goldene Mitte“. Er prägte den Begriff der Katharsis (Reinigung) und interpretiert ihn als die Läuterung von Leidenschaft und eine Entschlackung der Seele von allem Sinnlichen, und zwar durch Erregung von „Mitleid und Furcht“. Ist Resignation Weisheit schlechthin? Demzufolge Weisheit gleich Resignation? Wohl kaum, denn der Resignation haftet etwas Verschlossenes, Niedergedrücktes, versonnen Erwartungsloses, traurig Schlafendes an. Das wäre eher eine Muß-Ausgewogenheit.  

Weisheit ist vielmehr „Resignation“ von höherer Ordnung. Sie mag besonnen, erwartungsvoll, geweckt und ausgewogen sein. Niemals aber kristallisiert sie aus der Schmelze eines Gewaltaktes.

Reine Weisheit im menschlichen Bereich ist fast undenkbar. Ein Mensch kann durch die lange Kausalkette seiner Erfahrungen und Konfliktsituationen dem Grenzwert „Weisheit“ beliebig nahe kommen, er wird aber diesen nie iterativ erreichen. Ein fortwährendes Orientieren, Abwägen und Korrigieren weist dem denkenden Wesen den Kurs im Strom der Weisheit.

Weisheitsdrang ist etwas Fließendes, etwas was auf Weiterentwicklung sinnt. Somit lässt sich in allen Weisheitsstufen etwas spezifisch Paradoxes ausmachen: Oasen der Ruhe und Besonnenheit und endlose Wüsten des noch-nicht-erfahren-habens. 

Aristoteles „Goldene Mitte“ als Weisheitskriterium ist entwicklungsunfähig, sie verzichtet auf Vitalität und Weitblick. Aus der gekrönten Mittelmäßigkeit werden keine neuen Ideen und Fakten geboren. Nur Extreme, Leidenschaften, Konflikte, Irrlichter im menschlichen Bereich wirken schöpferisch und öffnen die Tore zur Weisheit.
Schiller: Heiter ist die Kunst und ernst das Leben.

Resignation wirkt also nicht schöpferisch, sondern vielmehr erschöpfend. Nur die ständige Erfahrung, auch diejenige, die aus der Kühle der tragischen Trauer geschöpft wird, ist der Treibriemen zur Weisheit, nicht aber Weisheit selbst. Tragik und Weisheit bieten tiefe Einblicke in die menschliche Natur und formen unsere Existenz. 

Aristoteles sagte schlicht:   

Sich selbst zu kennen ist der Anfang aller Weisheit.

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