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„Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ – Versuch einer Annäherung

Von Hubert von Brunn 

Griechenland. Immer noch? Schon wieder? – Ja, aber dieses Mal etwas anders. Die Fakten zu dem zermürbenden Gezerre um Hellas sind – so weit man sie uns eben wissen lässt – bekannt und es wäre müßig, dieser wirren, vielfach zum Glaubenskrieg entarteten Diskussion noch eine weitere Meinung hinzuzufügen. Ein lohnenswertes Unterfangen indes könnte es sein, entlang der klugen Gedanken und pointierten Aphorismen des 80jährigen griechischen Philosophen Niko Dimou aus seinem 1975 erschienenen Bestseller „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ eine Annäherung an das Selbstverständnis des griechischen Volkes und die spezielle Mentalität der Griechen zu versuchen.

Griechen denken mit dem Gemüt“

Niko Dimou ist in Griechenland hoch angesehen und gilt als so etwas wie der literarische Psychotherapeut der Nation. Im ZDF-Auslandsjournal am 08. 07. 2015 zu den Vorgängen in jüngster Zeit in und um Griechenland und insbesondere zum Oxi-Referendum befragt, hat der weise Mann in sehr gutem Deutsch den bezeichnenden Satz formuliert: „Die Griechen denken mit dem Gemüt, nicht mit dem Kopf.“ Weiterhin stellt Dimou in dem Interview nüchtern fest: „Diejenigen, die gestern noch getanzt und gefeiert haben, haben jetzt einen Hangover, einen Kater. Nun denken sie: Wie geht es jetzt weiter?“

Diese Frage ist mehr als berechtigt und die Vermutung liegt nahe, dass die gut 60% der Bevölkerung, die am vorletzten Sonntag mit „Nein“ gestimmt haben, ihr Votum eher aus dem Bauch heraus abgegeben haben, denn nach reiflicher Analyse. Wie denn auch? Bei der Fragestellung, die sinngemäß darauf hinaus lief: „Wollt Ihr Euch weiter von Europa und den Institutionen knechten lassen, oder wollt Ihr ein freies, unabhängiges Volk der Griechen sein?“ konnte dieses Mehrheitsvotum nicht überraschen. Natürlich hat das stolze Volk der Hellenen ein Recht darauf, frei, unabhängig und in voller Souveränität über sein weiteres Schicksal zu entscheiden.

Die Regierung Tsipras hätte Zeit gebraucht

Das Freiheitsverständnis seiner Landsleute betrachtet Dimou allerdings auch eher kritisch „Frei ist nicht derjenige, der macht, was er will, sondern der, der weiß, was er will. Solange wir nicht wissen, wer wir sind, solange wir nicht wissen, was wir wollen, solange wir keine klare Vorstellung und kein klares Verantwortungsbewusstsein haben, werden wir von einer Abhängigkeit in die nächste geraten.“ (81)* Eine ziemlich treffende Zusammenfassung der Politik der mehrheitlich vom Volk gewählten konservativen Regierungen der letzten Jahrzehnte. Hätten die Griechen schon früher ein Bewusstsein dafür entwickelt, was sie wollen, hätten sie jene korrupte, nepotistische Bande schon vor Jahren zum Teufel gejagt. Viel Ungemach wäre Hellas – und Europa – erspart geblieben. Bei den letzten Wahlen haben sie es endlich gewagt und die Linke gewählt. Aber es war zu spät, die Karre war schon zu tief in den Dreck gefahren und die Abhängigkeit von europäischen Banken und dem IWF überbordend. Die Regierung Tsipras hätte Zeit gebraucht, um den Weg für ein neues Griechenland zu ebnen und die notwendigen Strukturen zu schaffen, aber diese Zeit wollte man ihnen nicht zugestehen.

Halten wir fest: Das Desaster, in dem die griechische Bevölkerung sich heute befindet, ist nicht die Schuld der derzeitigen Regierung unter Tsipras. Das haben Vetternwirtschaft, Korruption und südländisches Laissez-faire der vorangegangenen Regierungen über Jahrzehnte verursacht. Halten wir fest: Griechenland hat sich mit gefälschten Bilanzen Zugang zur Euro-Zone verschafft – massiv unterstützt von der Regierung Schröder mit ihrem unsäglichen Finanzminister Eichel. Das hätte nie passieren dürfen. Halten wir fest: Die Institutionen (ehedem „Troika“) haben in den vergangenen fünf Jahren 320 Milliarden nach Griechenland transferiert, eine Menge Geld, von dem so gut wie nichts bei der Bevölkerung angekommen ist. Es hat lediglich der vordergründigen Rettung griechischer Banken gedient und ist zum größten Teil unmittelbar an deutsche und französische Banken zurückgeflossen. Wieder einmal: Hauptsache, die Banken sind befriedigt, wie es den Menschen geht, interessiert kein Schwein.

Ein Grieche nimmt die Realität prinzipiell nicht zur Kenntnis“

Dann der doppelte Salto rückwärts. Unmittelbar nach dem Referendum bettelt Tsipras in Brüssel wieder um Geld und unterwirft sich für das 3. Hilfspaket noch harscheren Bedingungen als jenen, die das Volk gerade mit „oxi“ abgelehnt hatte. Dazu Dimou: „Ein Grieche tut alles, was er kann, um die Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu vergrößern.“ (22) Gebildete junge Leute, Studenten, die in der o.g. ZDF-Sendung auch zu Wort kommen, unterstreichen mit ihren euphorischen Kommentaren genau dieses Statement des Philosophen. „Wir wollen ein besseres Griechenland“, ist unisono das Credo in dieser Runde. „Jetzt können wir alles selbst entscheiden“, sagt eine Marianna entschlossen und fügt nicht ohne einen gewissen Trotz hinzu: „Die Regeln mögen woanders passen, in Griechenland nicht.“ – Konkrete Pläne, Konzepte, Ideen, wie ihr rigoroser Optimismus denn realisiert werden sollte, können die jungen Leute allerdings nicht vorweisen. Wunsch und Wirklichkeit…! –

Zu jener spezifisch griechischen Haltung zur Realität noch zwei treffende Aphorismen von Dimou: „Die Nation muss als national ansehen, was wahr ist. Seit Jahr und Tag versuchen wir, uns selbst vom Gegenteil zu überzeugen.“ (26) und: „Ein Grieche nimmt die Realität prinzipiell nicht zur Kenntnis. Er lebt zweifach über seine Verhältnisse. Er verspricht das Dreifache, von dem, was er halten kann. Er weiß viermal so viel wie das, was er tatsächlich gelernt hat. Er zeigt seine Gefühle fünfmal stärker, als er sie wirklich empfindet.“ (32) Nun, eine gewisse Neigung zur Übertreibung und Selbstdarstellung bei den griechischen Hauptakteuren ist uns allen in den letzten Monaten ja auch nicht entgangen. Das wirkte manchmal erfrischend und sympathisch, mitunter für den einen oder anderen Mitteleuropäer aber auch aufdringlich und abstoßend, zumindest irritierend.

Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen“

In diesen Kontext passt auch die persönliche Einschätzung, die Niko Dimou in jenem Auslandsjournal zur Person Alexis Tsipras abgegeben hat: „Tsipras hat viele Sachen versprochen und er verspricht immer noch. Der Zauber hält an; er ist sehr charismatisch, ein sehr begabter Demagoge. Falls alles schief geht, ist Tsipras am Ende – und wir auch.“ Ex-Finanzminister und Weggefährte von Tsipras, Yanis Varoufakis, hat den Braten gerochen und ist unmittelbar nach dem Referendum aus dem Geschäft ausgestiegen. Er war in den unzähligen Verhandlungen mit Gläubigern und potenziellen Geldgebern immer ganz vorne mit dabei, wusste um Details und Stimmungen und hat als Wirtschaftswissenschaftler offenbar klar erkannt, dass die ganze Geschichte in einem Desaster enden würde. Dafür wollte er seinen Kopf nicht mehr hinhalten. Vielleicht hat er sich auch an Dimous Buch erinnert und speziell an dessen Feststellung: „Andere Völker haben Institutionen. Wir haben Luftspiegelungen.“ (105)

Die Sympathiefrage speilt eine große Rolle

Das Gelingen oder Scheitern von politischen Verhandlungen wird nicht nur bestimmt von nüchternen Fakten, sondern hängt in nicht geringem Maße auch ab von Sympathie bzw. Antipathie zwischen den Akteuren. Das hat die jüngere Geschichte oft genug gezeigt und das hat gewiss auch bei den Verhandlungen zwischen den unkonventionellen „Rebellen“ aus Athen und der Altherren/-damen-Riege in Brüssel und anderswo eine Rolle gespielt. Vielleicht hätte man den Verhandlungspartnern Dimous Buch „Über das Unglück, ein Grieche zu sein“ als Pflichtlektüre an die Hand geben müssen. Womöglich hätte das zu einem besseren Verständnis der griechischen Mentalität beigetragen und am Ende zu einem etwas konzilianteren Umgang miteinander.

Schließlich noch einige Zitate aus dem Postskriptum des Autors zur deutschen Ausgabe (2012) seines Buches: „Die Menschen, die dieses Buch mit Vergnügen lesen, sind vermutlich keine Griechen. Für einen Griechen ist dieses Buch eine Qual. (…) Es ist eine Liebeserklärung an Griechenland, das wahre, das tiefe Griechenland – und nicht das oberflächliche Land der Mythen, das die Griechen selbst geschaffen haben, um der Realität zu entkommen. (…) Um es mit aller Emotion zu sagen: Die Griechen müssen sich neu erfinden, wenn sie in der heutigen Welt überleben wollen. Dieses Buch will ihnen auf diesem Weg beistehen.“

Griechenlands Mut zur Demokratie – Europas Versagen

Das Mutterland der Demokratie zu sein, steht im Selbstverständnis der Griechen nach Dimous Analyse Anlass für überbordenden Stolz und bedrückende Last gleichermaßen. Schon einmal hat Hellas den Europäern vorgemacht, wie Demokratie geht – wenn auch mit gewissen Einschränkungen. Ganz aktuell aber hätte Europa von den Griechen lernen können, indem die anderen 18 Euro-Länder genau deren Beispiel gefolgt wären und ebenfalls Referenden durchgeführt hätten, mit einer ähnlich einfachen Fragestellung: „Wollt Ihr, dass wir weiter Milliarden Euro nach Griechenland transferieren, damit es den Banken gut geht? Ja oder Nein!“ Man muss kein Augur sein, um das Ergebnis einer solchen Volksbefragung vorherzusehen. Herausgekommen wäre ein sattes „Nein“ – und damit wären sich die Griechen und der Rest der Eurozone einig gewesen. Die Bürger hätten mit ihrer Stimmabgabe dafür gesorgt, dass dieser ganze Schuldenwahnsinn, der den Menschen in Griechenland nicht hilft, sondern lediglich das Finanzkarussell virtuell am Laufen hält, endlich ein Ende gefunden hätte.

 

Mit einem solchen übereinstimmenden Mehrheitsvotum der Bürger in den 19 Euro-Ländern wäre den Regierenden und den Verwaltern des Kapitals nichts anderes übrig geblieben, als sich hinzusetzten und wirklich konstruktiv über neue, gangbare und für die Menschen hilfreiche Lösungswege nachzudenken und sich von dem idiotischen „Immer weiter so“ zu verabschieden. Dann wären auch so manche Parlamentarier im Deutschen Bundestag nicht in Gewissenskonflikt geraten, denn bei einem Referendum hätten sie als Bürger abgestimmt, ohne Fraktionszwang. Griechenland hat Mut zur Demokratie gezeigt – der Rest Europas nicht.

 

( )* Nummer des zitierten Aphorismus’ aus dem Buch:

Nikos Dimou, Über das Unglück, ein Grieche zu sein, Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2012

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