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Warum die Radikalisierung von Muslimen so einfach ist

Von Peter Haisenko 

Es gibt viele Ansätze zu erklären, warum auch in Europa Muslime so leicht zu radikalisieren sind. Ich füge einen weiteren hinzu: Wir tragen dafür die Verantwortung, weil wir unsere eigenen „Ideale“ verraten haben.

Um schwierige Ursachen und Zusammenhänge leichter erkennen zu können ist es sinnvoll, mit der Betrachtung von Extremen zu beginnen, wie es auch die Mathematik tut. Ich stelle also ein Modell vor, das zwar fiktiv ist, aber genau so in der Realität existieren könnte. Nehmen wir an, ein junger Mann lebt friedlich in Deutschland. Er ist hier geboren und aufgewachsen, lebt mit seinen Eltern hier, aber die sind Zuwanderer aus Pakistan. Dieser junge Mann hat viele Verwandte in Pakistan, die er auch schon öfters besucht hat. Er liebt seine Cousinen und Cousins ebenso, wie deren Ehepartner und Kinder. Alles ist gut.

Enttäuschung auf der ganzen Linie

Nun erreicht ihn die Nachricht, dass der größte Teil seiner geliebten Verwandtschaft in Pakistan bei einem Angriff von einer US-Drohne ermordet worden ist. Es ist hierbei unwesentlich, ob es sich um einen gezielten Angriff auf seine Verwandtschaft gehandelt hat oder ein „Kollateralschaden“ zu beklagen ist. Der junge Mann in Deutschland ist entsetzt, verstört und tief verletzt ob dieses Verlustes. Weil er in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist, sinnt er nicht sofort auf (Blut-)Rache. Er will als rechtschaffener Deutscher zunächst nur, dass das Verbrechen an seiner Verwandtschaft aufgeklärt wird und die Schuldigen bestraft werden. So weit, so gut.

Nun wendet sich der junge Mann an die Staatsanwaltschaft, wie es sich für einen guten Deutschen gehört. Dort muss er allerdings erleben, dass sich niemand für seine Anklage interessiert, geschweige denn Ermittlungen aufnimmt. Mit dieser Enttäuschung im Rücken wendet er sich an die „vierte Gewalt“; er geht zu seiner Zeitung und berichtet von seinem Leid. Aber auch dort muss er erfahren, dass niemand seine zweifellos wichtige Geschichte aufgreifen will, geschweige denn eine Kampagne zur Aufklärung zu starten. Dieser junge Mann beginnt spätestens jetzt an unserem System zu zweifeln, das ja nach allem, was er bislang erfahren hat, angeblich weltweit vehement für die Wahrung der Menschenrechte eintritt – Presse und Politiker. Er lernt: Für meine Rechte und die meiner Verwandten gilt das nicht.

Leichtes Spiel für Hassprediger

Es ist nur logisch, dass dieser junge Mann jetzt zutiefst verunsichert ist, denn alles, woran er in unserem Rechtsstaat geglaubt hat, ist zumindest schwer beschädigt. Er sucht Trost, Rat und Hilfe. Weil er aus einem liberal-moslemischen Umfeld stammt, sucht er diese in einer Moschee, etwa so, wie ein Christ in Not nach Altötting pilgert, um eine Kerze zu stiften. Im Umfeld dieser Moschee trifft er auf Leidensgenossen, denen ähnliches, vielleicht nicht ganz so Schlimmes passiert ist. Wenn es jetzt unglücklich weitergeht, dann könnte er hier auf einen radikalen Prediger treffen. Dieser wiederum wird mit seinen in sich schlüssigen Argumenten ein leichtes Spiel haben, den bislang völlig unauffälligen und hoffnungsfrohen jungen Mann zu radikalisieren. Das ist kein Wunder, denn man kann dem Argument in diesem Zusammenhang kaum widersprechen, dass sich niemand um die Nöte dieses jungen Manns kümmert, außer eben jenen radikalen Muslimen. Wir haben uns einen potentiellen Gewalttäter geschaffen.

Nun muss man erkennen, dass es nicht nur direkt betroffene (muslimische) Menschen sind, die nicht verstehen können, dass in unserer westlichen Welt niemand öffentlich gegen die Drohnenmorde der US-Regierung die Stimme erhebt. Zumindest nicht unsere Politiker und schon gar nicht unsere Medien, die von „Transatlantikern“ kontrolliert werden. Wo schon bei „normalen“ Deutschen Frustration und Unverständnis über diesen unsäglichen Zustand existieren, darf sich niemand wundern, wenn weniger in unserer Kultur verwurzelte Menschen erheblich radikaler reagieren. Es darf sowieso die Frage gestellt werden, wo denn die ganzen „Gutmenschen“ geblieben sind, die ansonsten unablässig auf Einhaltung der Menschenrechte in China und Russland lautstark bestehen.

Drohnenmorde sind an der Tagesordnung – Keiner sagt was!

Dieser junge Mann ist nicht dumm. Er hat miterleben müssen, wie die USA mit Lügen ihren Überfall auf den Irak begründet haben und dieses Land und den Umkreis ins Chaos gebombt haben und dafür nicht ansatzweise angeklagt, geschweige denn zur Verantwortung gezogen werden. Auch da geht es ihm nicht anders als einer Mehrheit der Deutschen. Hier müssen wir darüber nachdenken, was tatsächlich in unserem Land, im gesamten „Westen“ abläuft und was die letztlich unausweichlichen Folgen sind: Wir verraten unsere Ideale und verlieren damit die Basis unserer christlich-rechtsstaatlichen Ordnung.

Man muss sich das schon einmal in Ruhe betrachten: Da gibt es ein Land, das der ganzen Welt Demokratie und Menschenrechte lehren will und das wird von einem Präsident regiert, der täglich – und hier übertreibe ich nicht – seine Unterschrift unter Befehle setzt, die die Ermordung von Menschen in der ganzen Welt anordnen. Wohlgemerkt, ohne gerichtliches Verfahren, ohne Anhörung Betroffener und allem anderen, was einem Todesurteil in einem zivilisierten Land voranzugehen hat. Ganz abgesehen davon, dass ein zivilisiertes Land die Todesstrafe sowieso ablehnt. Erschwerend kommt hinzu, dass mit diesen Befehlen wissentlich und billigend in Kauf genommen wird, dass neben der „verurteilten“ Zielperson eine nicht einzuschätzende Anzahl unschuldiger Zivilisten ebenfalls ermordet wird – eben „Kollateralschäden passieren“.

Wir sind die „Guten“, wir dürfen das

Gerade junge Menschen sind darauf angewiesen, für ihre (positive) Entwicklung ein festes Moralgerüst zu haben, an dem sie sich orientieren können. Dieses können sie aber nicht mehr erkennen, wenn über derartige Vorgehensweisen schweigend hinweggegangen wird. Und es ist ja nicht nur dieses, es ist die gesamte Vorgehensweise unseres Hegemons, der seit Jahrzehnten Länder nach Belieben angreift und zerstört mit dem wunderbaren Argument: Wir sind die Guten, wir befreien euch und bringen euch „Demokratie“. Hat denn schon jemals jemand die betroffenen Menschen gefragt, ob sie das wollen? Muss man nicht, denn wir sind ja die Guten und wir wissen besser, was für euch gut ist. Nun, der junge Mann sieht das spätestens jetzt anders und er hat Recht, denn die Millionen Toten, das Leid und Elend, das über diese Länder gebracht worden ist, kann mit nichts begründet werden, was auch nur annähernd mit unseren „Idealen“ im Zusammenhang stehen könnte.

Wir sollten uns an die eigene Nase fassen, wenn wir über Menschenrechtsverletzungen, Terror oder Moral sprechen. Wie verkommen ist unsere eigene (öffentliche) Moral, wenn wir schweigend über all die Untaten hinwegsehen, die letztlich in unserem Namen von unserem Hegemon verbrochen werden. Wie können wir uns angesichts dessen erheben und Menschen verdammen, verurteilen, die in ihrer ohnmächtigen Wut über derartige Ungerechtigkeiten nur noch einen Weg sehen: Den bewaffneten Kampf gegen das Imperium des Bösen. Wie kann man als Betroffener die USA anders sehen? Ich rede hier keineswegs dem bewaffneten Kampf von Extremisten das Wort, aber ich sehe, wie wir selbst den Boden für diese irregeleiteten Menschen bereiten. Wie wir uns selbst jeder moralischen Grundlage berauben, indem wir unsere eigenen Ideale beiseite legen, wenn es um unseren Hegemon, die USA geht.

Wer heilen will, muss die Ursachen bekämpfen

Jeder gute Arzt weiß es: Wer eine Krankheit heilen will, der darf nicht nur an den Symptomen herumdoktern. Genau das tun wir aber, wenn der „Terrorismusgefahr“ nur mit immer neuen Beschränkungen und Überwachungen begegnet wird. Wir müssen an die Ursachen gehen und so den Boden für irregeleitete Gewalttäter austrocknen. Und hier gilt die alte Weisheit: Wer die Welt verändern/verbessern will, der muss bei sich selbst anfangen. Wer also wirklich eine friedlichere und gerechtere Welt schaffen will, der muss damit beginnen, unsere eigene Position zu überprüfen. Tun wir wirklich alles, was unseren Idealen entspricht, sie fördert? Praktizieren wir nicht eine selektive Moral, die gekennzeichnet ist von selektivem Wegsehen, wenn es unseren Vorbetern opportun erscheint?

Wer eigenständig denkt, wer (noch oder nicht mehr) nicht alles einfach glaubt, was unsere Medien publizieren und womöglich seine Wurzeln in einem andern Kulturkreis hat, der kann gar nicht anders, als die gravierenden Ungereimtheiten in unserem System und unserem Verhalten zu erkennen und abzulehnen. Es ist dann nur noch eine Frage des Umfelds, wie der einzelne seine Reaktion gestalten wird. Die islamischen Prediger geben ihren Jüngern ein schlüssiges Moralgerüst vor, das das Vakuum füllt, das unsere Abwendung von unseren eigenen Idealen geschaffen hat. Wie leicht ist es dann für Hassprediger, eine Radikalisierung herbeizuführen? Wie gesagt, auch ich verdamme Gewaltanwendung in jeder Form, aber ich sehe, dass es sehr wohl nachvollziehbare Abläufe gibt, die Menschen radikalisieren können, ohne dass sie das jemals geplant hatten.

Taliban, Al-Quaida, IS – das Ergebnis amerikanischer Politik

Mein (fiktives) Beispiel bezieht sich auf Pakistan. Das ist zu wenig. Mittlerweile darf es als Allgemeinwissen betrachtet werden, dass es die Angriffe der USA auf den Mittleren Osten waren, die den Boden bereitet haben für die Entstehung und Ausbreitung radikalislamischer Gruppen und letztlich dem IS. Wie viele junge Männer gibt es in unserem Land, und nicht nur hier, die Verwandte verloren haben im Irak, Afghanistan, Syrien oder Libyen? Die wissen, wer für deren Tod verantwortlich zeichnen muss? Die sehen, dass wir, unsere Politik und Medien geflissentlich darüber hinwegsehen? Wir sollten uns schämen, dass wir die Anklagen darüber den Hasspredigern überlassen.

Nur wenn wir uns besinnen auf unsere Ideale, die Einhaltung von Menschenrechten vorbehaltlos auch von unserem Hegemon einfordern, nur dann können wir Hasspredigern ihren Boden entziehen. Sie sind es, die uns mit der Nase in unseren eigenen Kot tauchen, indem sie das tun, was eigentlich unsere Aufgabe wäre. Dem radikalen Islamismus wäre die Spitze genommen, wenn wir unserer eigentlichen Aufgabe gerecht würden, Menschenrechte ohne Ansehen der Täter einzufordern, deren Verletzung anzuklagen und zu ahnden. Dann, und nur dann müssten junge Männer nicht mehr zu ihrem Imam gehen, um das Gefühl zu haben, dass sie ernst genommen werden und ihre gerechten Anklagen auch verfolgt werden, ohne dass sie zur Waffe greifen (müssen).

Nachsatz: Bevor es den IS gab, war es durchaus „gesellschaftsfähig“, als Kämpfer gegen Assad nach Syrien zu ziehen. Der NATO-Partner Türkei hat sie willig durchgeschleust, die USA haben sie im Kosovo in Camp Bondsteel sogar ausgebildet. Mancher „Rückkehrer“, der jetzt unter Generalverdacht steht, ist damals nach Syrien gezogen und darf sich jetzt wundern, dass sich die Haltung ihm gegenüber so verändert hat.