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Depression und Suizid – Tabuthemen, über die man reden muss

Von Felix Weinmacher

Depression ist eine Krankheit, die viel zu lange in weitern Teilen der Gesellschaft tabuisiert, wenn nicht bagatellisiert wurde. In letzter Zeit ist dieses Thema wieder in einigen Medien virulent, nicht zuletzt durch die öffentlichen Auftritte von Teresa Enke, der Witwe des Fußball-National-Torhüters Robert Enke, der unter Depressionen litt und sich vor zehn Jahren das Leben genommen hat. Mit ihrer Stiftung will Frau Enke die Erforschung und Behandlung von Depressionen unterstützen. Sie hat Jahre an der Seite ihres vordergründig erfolgreichen Mannes gelebt, von seinen düsteren Gedanken mehr geahnt als gewusst – und konnte ihm nicht helfen.

Jedes Jahr begehen rund 10.000 Menschen in Deutschland Selbstmord. Die Ursachen und Motive, die letztlich dazu führen, „dem Theater, das andere Leben nennen“, ein Ende zu setzen, sind extrem vielfältig und bezogen auf jeden Einzelfall absolut einzigartig. Das macht es auch so schwer, Symptome für dieses Krankheitsbild zu erkennen und noch schwerer, nachhaltig heilend dagegen vorzugehen. Ich weiß, wovon ich rede, denn ich war selbst in diesem tiefsten aller Löcher angekommen, in jener qualvollen Ausweglosigkeit, in der es nur noch einen Gedanken gibt: Der Schmerz soll aufhören. Gott sei Dank hatte ich mich für einen finalen Weg entscheiden, der sehr viel Mut erfordert – und der hat mir am Ende gefehlt. Deshalb weile ich noch unter den Lebenden, hatte die Möglichkeit, mein Leben neu zu sortieren und kann jetzt auch darüber schreiben.

Ursprünglich hatte ich die nachfolgende Schilderung meiner „Nacht der langen Messer“ und der unmittelbaren Folgen nur als eine Art Tagebucheintrag und keinesfalls zur Veröffentlichung gedacht. Aber vielleicht kann ich als ehedem Betroffener mit meiner authentischen Geschichte dazu beitragen, dass Menschen, die sich womöglich auch mit dem Gedanken tragen, ihrem Leben ein Ende zu setzen, davon Abstand nehmen und zurückfinden zum Glauben an sich selbst und erkennen, dass es bei aller Düsternis doch auch noch Lichtblicke gibt: Menschen, die an sie glauben, die sie brauchen und die sie lieben. Diesen Optimismus will ich stärken, indem ich mich oute. Wenn es mir gelingt, auch nur einen Lebensmüden von seinem Plan abzuhalten und zurückzubringen auf die Spur des Lebens – dann bin ich sehr glücklich.

Wenn die Hoffnung Trauer trägt 

Da naht sie, die gefährliche Bestie. Die glühenden Augen werden größer und größer und je näher sie kommt, desto lauter wird sie. Die Elektromotoren drehen hoch und entwickeln ein bedrohliches Singen, unterstützt von dem harten Ton, den Eisen auf Eisen erzeugt: Eiserne Räder auf eisernen Gleisen. Der Luftstau, den der Zug vor sich her schiebt, erreicht mich, übt Druck auf meinen Körper aus – eine Sekunde später rauschen 60 Tonnen Eisen und Stahl zischend an mir vorbei. Geballte Kraft, unwiderstehlich, unaufhaltsam. Das aus einem halben Meter Abstand zu spüren, ist eine schmerzlich einzigartige, mit nichts zu vergleichende Erfahrung.

In den erleuchteten Abteilen sind flüchtig Passagiere zu erkennen. Wahrscheinlich sind sie müde von der Arbeit und froh, endlich nach Hause zu kommen. Die wenigsten werden den einsamen Mann neben dem Bahndamm wahrgenommen haben. Obwohl ich in meinem weißen Sommer-Jackett auch in der Dunkelheit gut auszumachen bin. Aber wer sieht da schon aus dem Fenster? Sie haben ihre Augen geschlossen oder daddeln auf dem Smartphone, manche lesen ein Buch oder in der Zeitung. Bahnfahrende interessieren sich nicht für die Welt da draußen, schon gar nicht bei Nacht. Sie wollen einfach nur ankommen, möglichst schnell.

Nachdem der erste Zug an mir vorbei gerauscht ist, setze ich mich wieder zwischen Haselnuss-Sträucher und Dornengestrüpp in das hoch wuchernde Unkraut gleich hinter dem Zaun und zünde mir eine Zigarette an. ‚Warum bist du hier? Was machst du da?’ frage ich halblaut in mich hinein. ‚Du willst Schluss machen, deinem Leben ein Ende setzen. Das ist dein Plan, deshalb bist du hier. Du hast versagt, nicht das gebracht, was du selbst von dir erwartet hast. Dein Leben ist zu Ende, jetzt und hier, und es ist deine Entscheidung, den Schlussstrich zu ziehen.’

Ein in Gegenrichtung durchbrausender Zug stört meine Gedanken. Die Zigarette ist zu Ende geraucht und ich zertrete die Kippe unter meinen schönen hellbraunen Sommerschuhen auf der groben Betonplatte. Die Schuhe waren nicht billig, und als ich sie vor einigen Jahren gekauft habe, war ich sehr stolz darauf. Inzwischen hatte ich sie zweimal zum Schuster gebracht, um Sohlen und Absätze erneuern zu lassen und sie sehen immer noch gut aus. Ich liebe diese Schuhe.

Mit Blick nach links kann ich den Bahnhof einsehen, aus dessen Richtung die nächste Bestie mit glühenden Augen auf mich zukommen würde. Ich stehe auf und bin wieder ganz nah am Gleis. ‚Ja, natürlich habe ich Fehler gemacht in meinem Leben’, führe ich das Gespräch mit mir weiter. ‚Wer nicht? Aber dort, wo ich gelandet bin, ist so weit weg von dem, was ich mir vor 20 Jahren als gesicherten Lebensabend vorgestellt habe. Damals war ich überzeugt davon: Wenn ich erst einmal die 60 erreicht habe, werde ich ein erfolgreicher Schriftsteller und Publizist sein, eine Persönlichkeit, deren Wissen und Lebenserfahrung jüngere Menschen suchen und denen ich mit gutem Rat zur Seite stehen kann. – Pah, nichts davon. Ja, tatsächlich habe ich einige Bücher geschrieben, Bücher, die den wenigen, die sie gelesen haben, auch gefallen. Jedenfalls gab es die eine oder andere positive Rückmeldung – aber Erfolg kann man das nicht nennen. Wenn ich mir überlege, was für ein Mist da mitunter gedruckt und dann auch noch als Bestseller hochgejubelt wird, kommt mir das große Kotzen. Charlotte Roche und ihr übles Machwerk „Feuchtgebiete“, zum Beispiel. Da habe ich nichts entgegenzusetzen. Ich bin Mann, habe keine 1-A-Beziehungen in große Verlage und kein Fernsehgesicht. Ich habe nur meinen Verstand und die Fähigkeit, mit der deutschen Sprache einigermaßen umgehen zu können. Aber das reicht nicht, um wirklich Karriere zu machen.’ – Wieder weht mich der Luftstau an, wieder habe ich nicht den Mut, den letzten, entscheidenden Schritt zu tun, wieder rauscht der Zug mit anderen müden Passagieren in den Abteilen an mir vorbei, wieder sitze ich im hohen Unkraut und zünde mir eine Zigarette an. Es sind nur noch drei übrig in der Packung. Ich muss mich entscheiden. 

Freiheit war stets ein wesentlicher Faktor in meinem Leben. Immer, wenn ich meine persönliche Freiheit bedroht sah, habe ich die Situation verändert oder bin gegangen: Love it, Change it or Leave it. – Tja, damals war’s, als ich noch jung war und meinte, die ganze Welt stünde mir offen. Dieser Illusion muss ich mich heute nicht mehr hingeben. Von Freiheit keine Spur. Ich lebe in vollkommener Abhängigkeit und A. lässt sie mich auch immer und immer wieder spüren. Als wir uns vor 14 Jahren kennenlernten, war ich noch gut im Geschäft: Edle Maisonett-Wohnung, Cabrio vor der Tür, schicke Urlaube in der Karibik, USA, Südafrika, zwischendurch ein nettes Golf-Wochenende und dazu noch ein beruhigendes Polster auf dem Konto. Dann kam der böse Absturz, und zwar an allen Fronten. So wie es all die Jahre bergauf gegangen ist, so ging es plötzlich bergab. Ich konnte machen, was ich wollte, nichts mochte mehr gelingen.

Von heute auf morgen keine Aufträge mehr von der Firma, für die ich mehr als 17 Jahre mit großem Einsatz gearbeitet habe – nur eben nicht fest angestellt. Einfach weggemobbt von einer hässlichen PR-Tante, die alles andere im Sinn gehabt haben mag, nur nicht konstruktiv mit mir zusammenzuarbeiten. Sie ist neu in die Firma gekommen und vom ersten Augenblick an war klar, dass sie mich aus dem Weg räumen will. Sie hat es geschafft – mit Unterstützung des Geschäftsführers. Möge ihn der Teufel holen. Keine Aufträge, kein Einkommen, aber jede Menge laufende Kosten. Ich musste an meine Rücklagen gehen. Irgendwann war auch dieses Reservoir erschöpft und ich hatte nichts mehr zu bieten. Der Weg vom angesehenen, bewunderten, erfolgreichen Selfmademan zum Loser ist ein ausgesprochen schmerzhafter. Jetzt bin ich unten angekommen und eine überzeugende Lösung, wie ich aus diesem mentalen Loch wieder herauskommen sollte, kann ich schon lange nicht mehr erkennen. 

Gedanken, die wehtun. In meinem Kopf brodelt und tobt und rumort es, alles geht durcheinander. In meinem früheren Leben hat man mich dafür bewundert für die Fähigkeit, gerade in prekären Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, mit augenscheinlicher Gelassenheit das Richtige zu tun und vernünftige, für alle Beteiligten akzeptable Lösungen zu finden. Von dieser Fähigkeit ist nichts übrig geblieben. Hilfloser als vollkommen desillusioniert neben den S-Bahn-Gleisen zu stehen, kann ein Mensch sich nicht fühlen. Wenn düstere Gedanken von dir Besitz ergriffen haben und du dich so allein fühlst wie man sich nur allein fühlen kann, dann gerät dein Menschsein an die Grenzen des Erträglichen. Dann willst du nur noch über deinen eigenen Schatten springen – und musst feststellen: Dieser Schatten ist verdammt groß.

Gewiss hat mir das Leben bis dahin auch schöne, glückliche Momente beschert und auch an das Zusammenleben mit A. habe ich wundervolle Erinnerungen. Aber in den letzten zwei, drei Jahren wurde sie mir gegenüber zunehmend böse, grob und unverschämt. So wie heute. Wieder einmal haben wir uns ums Geld gestritten. Immer geht es nur ums Geld, obwohl es uns so schlecht gar nicht geht. Da müssen andere Menschen mit sehr viel weniger auskommen – und sind trotzdem glücklich. Wieder einmal hat A. mir vorgehalten, dass ich zu wenig verdiene und sie alles bezahlen müsse; dass ich ihr auf der Tasche liege, sie ausnutze und sie finanziell besser dastünde, wenn es mich nicht gäbe. Die Auseinandersetzung war widerlich, ungerecht und zutiefst verletzend – wie all jene davor, von denen es reichlich gab. Im nüchternen Zustand ist A. ein absolut friedfertiger und liebenswerter Mensch, wenn sie getrunken hat, wird sie unberechenbar und bösartig und schüttet den Müllkübel über mich aus. Eine emotionale Bandbreite von Mutter Teresa bis Xantippe – das muss man erst mal hinkriegen, so wie man es hinkriegen muss, damit als Partner, als Lebensgefährte umzugehen.

So wie an diesem Abend. Und als sie dann auch noch – das erste Mal, seit wir uns kennen – versuchte, mir ins Gesicht zu schlagen, was ich mit einem guten Reflex abwehren konnte, war das Maß endgültig voll. Ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr. Zutiefst überzeugt, meinen Plan umzusetzen, verließ ich die Wohnung, sicher, sie nie wieder zu betreten. 

Draußen ist es dämmrig. Ich habe keine Eile und gehe zu „Carola“, eine Kneipe in der Nähe. Erstaunlicherweise bin ich der einzige Gast und Atze, der Kellner, den ich natürlich kenne, zapft sein erstes Bier. Ich lasse mir von ihm eines von diesen kleinen Wirtshausblöckchen geben und notiere meine vermeintlich letzten Gedanken. Als erstes formuliere ich eine Entschuldigung an den Zugführer. Ich sagt ihm, dass es nicht seine Schuld ist, mich mit seinem Zug ins Jenseits befördert zu haben. Dass es meine Entscheidung war und er nichts dafür kann, sich nichts vorwerfen und weiter seinen Job machen soll. Atze verfolgt ein Fußballspiel im Fernsehen und lässt mich in Ruhe. Das ist gut so. Ich bin ganz bei mir und entschlossen, heute den Gedanken, den ich schon viel zu oft gedacht hatte, Realität werden zu lassen.

Nach zwei Bieren habe ich das Wirtshausblöckchen vollgeschrieben. Mehr gibt es nicht zu sagen. Ich zahle, verlasse die Kneipe und biege in die Straße ein, die auf kürzestem Weg zum Bahndamm führt. Nach wenigen Minuten habe ich die Brücke, die über die S-Bahn führt, erreicht und biege davor links ab in den schmalen Weg, der parallel zu den Gleisen verläuft. Links des Weges sind schmucklose Wohnblocks, vermutlich in den 1960er und -70er Jahren entstanden, rechts ein zwei bis fünf Meter breiter Streifen von dichtem Gestrüpp und Bäumen bewachsen und dann ein zwei Meter hoher, von Stacheldraht gesäumter Zaun, dahinter die um einige Meter tiefer liegende Gleisanlage.

Auf den ersten hundert Metern stehen die Häuser sehr nah und ich gehe gemessenen Schrittes weiter. Niemand sollte mich beobachten, wenn ich den Zaun übersteige. Ein Mann mit einer zotteligen Promenadenmischung an der Leine begegnet mir. Der Mann grüßt, ich gebe ihm ein freundliches „Guten Abend“ zurück. Vielleicht der letzte Mensch, dem ich in meinem Leben begegne. Dann rückt die Bebauung weiter vom Weg ab und ich unternehme immer wieder einen Versuch, das Gestrüpp zu durchdringen und eine Situation zu finden, die mir hilft, den hohen Zaun zu überwinden. – Schwierig, sehr schwierig und nicht ganz ungefährlich, denn die Böschung auf der anderen Seite des Zauns fällt steil ab. Da kann man sich auch schon mal den Fuß verstauchen oder den Knöchel brechen. Komplikationen dieser Art wolle ich unbedingt vermeiden.

Nach mehreren Fehlversuchen habe ich eine geeignete Stelle gefunden. Da steht ein großer Baum, dem man irgendwann, weshalb auch immer, den zweiten Stamm, den er ausgebildet hatte, abgesägt hat. Das bietet mir in eineinhalb Meter Höhe einen praktischen Tritt, um den Zaun zu überwinden. Einfach ist es dennoch nicht und ich muss alle Kraft aufbieten, um diesen Kletterakt zu bewältigen. Dank der reichlichen körperlichen Arbeit, die ich über die Jahre auf dem von A. geerbten Anwesen auf dem Lande ausüben durfte, bin ich fit und in der Lage, diese Herausforderung zu meistern. Dann ein kühner Sprung und ich bin auf der anderen Seite des Zauns. Nichts verstaucht, nichts gebrochen, alles gut. 

‚Mutter, Vater, im Himmel werden wir uns bald wiedersehen. Oder? Vielleicht. Ihr wart gute Menschen, ehrlich, rechtschaffen und habt niemandem etwas Böses getan. Ich habe auch niemand anderem geschadet, das weiß ich, das kann ich versprechen. Aber das hier? Das, was ich hier vorhabe, ist nach katholischer Lehre eine Todsünde. Auch wenn ich dem Verein schon lange nicht mehr angehöre – ihr habt mich so erzogen. Und wer eine Todsünde begeht, muss in der Hölle schmoren. Vielleicht hat der „Chef“ ja ein Einsehen mit mir und ich komme erst mal nur ins Fegefeuer. Dann dauert es halt noch ein Bisschen, bis wir uns wiedersehen.

Der dritte Zug ist durch und ich habe keine Zigaretten mehr. Bei „Carola“ hätte ich mir noch eine Packung besorgen sollten, aber ich hatte ja nicht damit gerechnet, dass die ganze Geschichte so lange dauern würde. Ich war entschlossen, den ersten Zug zu nehmen. In der Kneipe beim Bier sitzend mag man das so sehen, wenn man neben dem Gleis steht und die Bestie rauscht heran, sieht das anders aus.

In der Brusttasche meines Jacketts rumort es, das Handy meldet sich. Ich ziehe das Gerät hervor, A. meldet sich:

„Wenn du schon kein Geld hast, musst du jetzt auch noch den letzten Cent in der Kneipe versaufen? Ich sag dir eines: Wenn du nicht sofort nach Hause kommst, dann lege ich die Kette vor und du kannst sehen, wo du schläfst.“

Aufgelegt. Ich habe keine Chance, etwas zu erklären, zu sagen, dass ich nicht mehr in der Kneipe bin, sondern am Bahndamm und dass ich ganz nahe dran bin, diesem Spiel ein Ende zu bereiten. Ich rufe zurück, aber sie nimmt nicht mehr ab, hat offensichtlich keine Lust mehr, mit mir zu reden.

Dann wähle ich die Nummer meines Freundes S.. Er ist – nach A. – der Mensch, der mir am nächsten steht, zu dem ich absolutes Vertrauen habe und von dem ich mich schließlich auch noch verabschieden muss. Mit brüchiger Stimme erzähle ich meinem Freund, wo ich bin und was ich vorhabe zu tun. Einfühlsam und gleichzeitig bestimmt redet S. auf mich ein. ‚Was soll der Scheiß? Du bist ein wertvoller Mensch. Wir brauchen dich, ICH brauche dich. Mach keinen Unsinn! Du hast schon so vieles erreicht und es gibt noch viel mehr, das wir zusammen erreichen können…“

Während des Telefonats nehme ich wahr, dass der S-Bahn-Zug – es ist jetzt der vierte, seit ich hier bin – sehr, sehr langsam an mir vorbeifährt. Verwunderlich, aber auch nicht weiter interessant, denn ich war ja im Gespräch mit meinem Freund. Plötzlich leuchten mich zwei Taschenlampen an – von der anderen Seite des Zauns. Beinahe wie die Augen der Bestie, nur viel kleiner und sehr viel näher.

„Was machen Sie dort auf dem S-Bahn-Gelände?, fragt der junge Mann in Uniform. „Sie dürfen da nicht sein.“

„Sorry, mein Freund, hier steht die Polizei vor mir und leuchtet mich an. Ich denke, wir müssen das Gespräch beenden.“

„Die Polizei? – Gut so. Tu, was sie sagen. Es wird alles gut.“

Ich lege auf, stecke das Handy in die Brusttasche meines Sakkos und wendet dich den Beamten mit der Taschenlampe zu.

„Mit wem haben Sie telefoniert?“, fragt die junge Polizistin.

„Mit meinem Freund.“

„Und was hat er gesagt?“

„Ich soll keinen Scheiß machen.“

„Da hat er Recht, Ihr Freund. – Bleiben Sie bitte da stehen, wo Sie sind. Mein Kollege wird zu Ihnen rüberkommen.“

Der Kollege versucht, über den Zaun zu gelangen, doch das will ihm nicht gelingen. Während der durchs Gestrüpp geirrt ist, hat die Polizistin mir gegenüber auf der anderen Seite des Zauns die Stellung gehalten und wohlwollend auf mich eingeredet.

„Was Sie da vorhaben, ist doch Unsinn. Es gibt gewiss Menschen, die Sie brauchen, Menschen, die Sie lieben. Die dürfen Sie doch nicht derart enttäuschen.“

„Ich weiß nicht. Ich weiß gar nichts mehr.“ Mehr kann ich nicht sagen.

Der junge Polizist ruft seiner Kollegin zu, dass es ihm nicht gelingt, über den Zaun zu steigen.

„Denken Sie, Sie schaffen es, wieder auf dieser Seite zu kommen?“

„Sicher. Dort, wo ich hineingehe, komme ich auch wieder heraus.“

Ich finde auch auf der Seite des Zauns eine Astgabel, mit deren Hilfe ich das Hindernis überwinden kann. Die Polizistin reicht mir die Hand – dann bin ich wieder drüben.

„Schön, dass Sie wieder hier sind“, sagt sie und nimmt mich in den Arm. „Du kannst zurückkommen“, ruft sie ihrem Kollegen zu. „Du musst nicht über den Zaun. Er ist wieder da.“

Wenig später sitze ich neben der Polizistin auf einer Parkbank und frage mich, was jetzt geschehen soll. Der Kollege kommt hinzu und fragt, ob er sich eine Zigarette anzünden darf.

„Aber ja“, sage ich, „Wenn Sie mir eine abgeben.

„Selbstverständlich, bitte.“

Der Polizist hält mir die Schachtel hin und ich stelle fest, dass es meine Marke ist.

„Ah, super, die rauche ich auch.“

„Wir müssen Sie ins Krankenhaus bringen. Der Rettungswagen ist schon alarmiert,“ sagt die Polizistin.

„Aber wieso denn? Ich tu doch gar nichts und mir geht es gut. Ich hatte einen Aussetzer, aber jetzt bin ich wieder auf der richtigen Seite. Bringen Sie mich ganz einfach nach Hause, ich wohne nicht weit von hier.“

„Das ist leider nicht möglich“, beharrt die freundliche Polizistin. Wir sind von der Bundespolizei und wir müssen Sie in ein Krankenhaus bringe.“

„Bundespolizei? Warum das denn?“

Die S-Bahn und das S-Bahn-Gelände ist unser Zuständigkeitsgebiet.“

„Oh Mann, ist das alles kompliziert.“

„Ja, schon, räumt die Polizistin ein. Sie machen zwar jetzt einen sehr ruhigen und gefassten Eindruck. Aber sie haben nun mal unerlaubter Weise S-Bahn-Gelände betreten und den Zugverkehr gestört.“

„Ich?!“ Wie sollte ich denn den S-Bahn-Verkehr gestört haben?“

„Indem Sie sich auf der anderen Seite des Zaunes aufgehalten haben. Das reicht. Sie wollten sich ganz offensichtlich das Leben nehmen und deshalb müssen wir Sie ins Krankenhaus bringen.“

„Und in welches?“

„Ins AVK“

„AVK? – Aber das ist ziemlich weit weg. Hier im Bezirk gibt es doch genügend Krankenhäuser.“

„Ja schon, aber es muss ein Krankenhaus sein, das um diese Uhrzeit noch einen Psychiatrischen Dienst hat.“

„Oh Gott. Und was passiert dann dort mit mir?

Das wird der Arzt entscheiden.“

„Aber wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, dass ich ausgerechnet hier bin?“

„Eine aufmerksame Bewohnerin in einem der Häuser dort hinten hat beobachtet, wie Sie über den Zaun gestiegen sind und dann ganz nahe an den vorbeifahrenden Zügen standen. Das ist ihr komisch vorgekommen und sie hat die Polizei alarmiert.“

„Eine aufmerksame Bewohnerin also“, sinniere ich halblaut. Hätte ich ein dunkles Jackett getragen, hätte sie mich wahrscheinlich nicht beobachten können.

Der Notarztwagen von der Feuerwehr ist eingetroffen. Die beiden Polizisten begleiten mich zu dem Wagen. Dort werde ich von einem freundlichen Sanitäter in Empfang genommen.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

„Ja, alles in Ordnung. Ich weiß nur nicht, was das soll.“

„Steigen Sie bitte ein.“

Ich steige ein, setze mich auf den Stuhl und strecke die Beine aus. Der Sanitäter, ein Mann in mittleren Jahren, ist freundlich und stellt Fragen zu meiner Person, die ich artig beantworte. – Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, doch die Fahrt im Rettungswagen kommt mir ziemlich lang vor, eine halbe Stunde vielleicht. Der Wagen hält, ich steige aus und sofort stehen die beiden Bundespolizisten, die dem Rettungswagen gefolgt sind, neben mir.

„Müssen Sie mich jetzt auch noch bewachen?“

„Nein, wir müssen nur sicher sein, dass Sie auch wirklich in dem Krankenhaus aufgenommen werden.“

Die elektrische Glastür öffnet sich, ein Pfleger gibt dem Sanitäter seine Unterschrift auf einem Formular, womit er offensichtlich den Empfang des Patienten/Delinquenten bestätigt hat. Die beiden Polizisten winken noch freundlich, der Pfleger fordert mich auf, ihm folgen zu wollen.

„Sie sind in der Notaufnahme der Klinik“, sagt er emotionslos, verlangt meinen Ausweis, verschwindet damit in einem Glaskasten. Nach etwa zehn Minuten kommt er wieder, gibt mir meinen Ausweis zurück und fordert mich auf hier zu warten. Man werde sich gleich um mich kümmern.

Notaufnahmen in Krankenhäusern, zumal zur nächtlichen Stunde, sind keine freundlichen Orte und man will dort eigentlich nicht sein. Es sei denn, man hat ein akutes gesundheitliches Problem, ist echt in Not und braucht dringend ärztliche Hilfe. Das aber ist bei mir nicht der Fall. Ich setze mich auf ein an die Seite geschobenes Krankenbett und warte. Unzählige Betten mit röchelnden, wimmernden Patienten, Menschen, denen es wirklich schlecht geht, werden an mir vorbeigeschoben.

Nahe dem Ausgang steht ein großer Wasserbehälter, aus dem man sich Mineralwasser in einen Pappbecher eingießen kann. Ich bediene mich mehrfach, wandere in dem Foyer der Notaufnahme herum, setze mich wieder auf das Krankenbett und versuche, den neu ankommenden Patienten in Betten, im Rollstuhl oder auf Krücken möglichst aus dem Weg zu gehen. Die gesamte Situation empfinde ich als äußerst bedrückend.

Über dem Glaskasten hängt eine große Bahnhofsuhr, die mir anzeigt, dass ich jetzt schon eine Stunde lang dieser alles andere als anheimelnden Situation ausgesetzt bin. Ich gehe hinüber zu dem Glaskasten und fragte eine darin sitzende Frau, wie es denn jetzt mit mir weitergehen sollte.

„Haben Sie noch etwas Geduld. Der Arzt wird gleich bei Ihnen sein.“

„Na hoffentlich. Ich bin müde.“

Ich drehe ab, fülle mir noch einen Becher Wasser und setzte mich wieder auf das leere Krankenbett in der Ecke.

„Was mache ich hier? Weshalb bin ich hier?“ – Diese Frage habe ich mir heute schon einmal an anderer Stelle gestellt. Dort hatte ich zumindest eine theoretische Antwort, auch wenn ich sie mir praktisch nicht geben konnte. Aber das hier war total absurd. Da werde ich mit Polizeieskorte in einem Rettungswagen in dieses Krankenhaus gebracht – angeblich, weil ich akut suizidgefährdet bin – und dann überlässt man mich vollkommen mir selbst. Vor wenigen Stunden noch, als ich entschlossen war, den letzten Weg zu gehen und letztlich an meiner Mutlosigkeit gescheitert bin, da war ich tatsächlich akut suizidgefährdet. Jetzt, hier, in dieser unfreundlichen, abweisenden Empfangshalle des Krankenhauses bin ich weit weg von diesem Gedanken. Ich fühle mich nur unendlich alleine, müde und will nach Hause in mein Bett. So es denn überhaupt für mich erreichbar wäre. Schließlich hatte A. eine eindeutige Drohung ausgestoßen und ihre Drohungen musste man ernst nehmen.

Die Möglichkeit, in dieser Nacht keinen Zutritt mehr in meine Wohnung zu haben, war also unbedingt in Betracht zu ziehen. Um für diesen Fall gerüstet zu sein, rufe ich unsere gemeinsame Freundin H. an. So knapp es geht, schildere ich ihr meine augenblickliche Situation und bereite sie auf die Eventualität vor, dass ich zu späterer Stunde noch an ihrer Haustür klingle und um Nachtasyl bitte. Die Besorgnis auf der anderen Seite war natürlich groß, aber ebenso selbstverständlich die Bereitschaft, mir, wenn es denn sein müsste, ein Lager zu richten.

Nachdem das geklärt ist, gehe ich ein weiteres Man – inzwischen war es kurz vor 1 Uhr – zu dem Glaskasten, um nachzufragen, was denn nun geschehen werde. Die Frau hinter der Scheibe spürt meine jetzt meine Ungeduld, führt mich in ein kleines, grell erleuchtetes, mit schäbigen Möbeln vollgestelltes Zimmer nebenan und kredenzt mir einen Becher Kaffee. Der roch sehr gut, war aber so heiß, dass an trinken nicht zu denken war. Nach einer gewissen Zeit nippe ich daran, genieße den kräftigen Geschmack und harre weiter der Dinge, die da nicht kommen. Dann fasse ich den Entschluss: Wenn ich diesen Becher geleert habe und sich bis dahin noch immer niemand um mich kümmert, gehe ich. Und genauso ist es gekommen. Niemand hält mich auf, die große Glastür öffnet sich automatisch und ich stehe draußen in der lauen Juninacht. Ärgerlich nur, dass ich meinen Zigarettenvorrat am Bahndamm aufgebraucht habe. Jetzt hätte ich gerne eine geraucht.

Ohne jede Vorstellung, wo ich eigentlich bin, gehe ich den spärlich erleuchteten Weg durch eine kleine Parkanlage entlang und gelange auf eine von historischen Gaslaternen gesäumte Nebenstraße. Wohin jetzt? Links oder rechts? Keine Ahnung. Ich entscheide mich für rechts – und die Götter haben ein Einsehen. Ein freies Taxi kommt mir entgegen. Ich winke entschieden und das Taxi hält an. Da fällt mir ein, dass ich kein Bargeld mehr in der Tasche habe.

„Kann ich bei Ihnen auch mit EC-Karte bezahlen“? frage ich den Taxifahrer.

„Na klar. Wo soll’s denn hin gehen?“

Ich nenne mein Ziel und steige ein.“

„Wird gemacht. Aber ich muss ein paar Umwege nehmen. Da sind jede Menge Baustellen und einige Straßen sind gesperrt.“

„Ja, ja, fahren Sie nur. Baustellen sind in Berlin ja nichts Besonderes.“

Das hätte ich nicht sagen sollen, denn der Taxifahrer fühlt sich nun bemüßigt mir einen Vortrag zu halten darüber, wie man dem Taxigewerbe das Leben schwer macht mit all diesen Baustellen und Straßensperrungen. Mir ist das völlig egal und ich hätte gern meine Ruhe gehabt. Aber er wollte reden. Also lasse ich ihn reden und gebe ihm an bestimmten Stellen Recht, um ihn bei Laune zu halten. So kommen wir schließlich dort an, wo ich hin wollte. Ich zahle mit Karte, gebe noch drei Euro obendrauf und verabschiede mich von dem geschwätzigen Droschkenkutscher. Jetzt kommt der spannende Moment. Komme ich rein oder muss ich doch wieder bei Freundin H. anrufen und bitten, dort die Nacht verbringen zu dürfen?

Die Haustür ist kein Hindernis, dafür habe ich meinen Schlüssel. Die Überraschung kommt weiter oben auf der Etage unserer Wohnung. Da werde ich mit einer Situation konfrontiert, auf die ich nun ganz und gar nicht vorbereitet war, mit der ich nicht rechnen konnte. Vor der Wohnungstür liegt, türkis-weiß gestreift, mein Bettzeug auf dem Boden. Wenn es warm ist, mag ich diese luftig-leichten Bezüge sehr und ich fühle mich sehr wohl, darin zu schlafen. Sie jetzt als unförmigen Klumpen vor meinen Füßen liegen zu sehen, irritiert mich sehr. Musste die Nachbarin darübersteigen? Oder Herr N., der seltsame Herr über uns? Wie konnte A. ein solches Signal für unsere Mitbewohner in den oberen Etagen geben, wo sie doch sonst immer so sehr darauf bedacht ist, dass nur keiner etwas mitbekommt, wenn wir uns streiten und ich mal etwas lauter werde. Ein so unübersehbares Zeichen des Rauswurfs konnte sie nur in extrem alkoholisiertem Zustand setzen. Massiv angetrunken war sie ja schon am frühen Abend, als sie nach mir schlug und ich darauf hin das Haus verließ. Wahrscheinlich hat sie dann noch nachgelegt und ist völlig außer Kontrolle geraten. Das ist leider so bei ihr. In nüchternem Zustand ist A. ausgesprochen fürsorglich, hilfsbereit und liebenswürdig. Aber Alkohol weckt den Teufel in ihr. Dann wird aus dieser freundlichen Frau eine abstoßende Megäre. In dieser Nacht hat sie den Höhepunkt gesetzt.

Die nächste Überraschung lässt nicht lange auf sich warten – und sie ist positiv. Der Schlüssel lässt sich im Schloss drehen und die Wohnungstür öffnen. Kein Gegenschlüssel von innen, keine vorgehängte Sperrkette – ich muss Freundin H. in dieser Nacht nicht mehr belästigen. Also packe ich das Bettzeug unter den Arm, schließe die Tür und verkrümele mich in mein Arbeitszimmer, wo ich mir auf dem Sofa das Nachtlager richte. Das gemeinsame Schlafzimmer erscheint mir in dem Moment nicht der geeignete Ort, um mein müdes Haupt zur Ruhe zu betten. 

15. Juni 

Irgendwann am späten Vormittag begegnen wir uns in der Küche, wie immer. Ich betätige den Kaffee-Automaten und organisiere mir einen Becher Kaffee. Auf den sonst üblichen Guten-Morgen-Kuss verzichte ich. Danach war mir nun wirklich nicht. Ich setze mich an den Tisch, zünde mir eine Zigarette an und schlürfe meinen Kaffee. Was ich nicht wissen konnte: Inzwischen hatte Freundin H. angerufen und sich nach meinem Befinden erkundigt. Darüber hat A. überhaupt erst mitbekommen, dass ich im Krankenhaus war usw.

Das Gespräch, das sich daraufhin zwischen uns entwickelt hat, muss man nicht en détail nachzeichnen, nur so viel: Ich habe geschildert, was geschehen ist, A. war entsetzt und hat mich, wie so oft ihrer unverbrüchlichen Liebe versichert, dass das doch alles gar nicht so gemeint war, ich nicht so empfindlich sein und nicht überreagieren solle. Na toll! War doch alles nicht so gemeint. Ja wie denn sonst?

In meinem Kopf ist Chaos. Die Bilder der vergangenen Nacht sind vor meinem inneren Auge extrem lebendig und ich habe Mühe, sie einzuordnen. Der Gedanke, diese Wohnung verlassen, diese Beziehung beenden zu müssen, treibt mich um, den ganzen Tag. Ich telefoniere mit P., aber er ist in dieser Situation auch nicht hilfreich. Kann er auch nicht sein. Nüchtern betrachtet, wäre es angesagt gewesen, die Klamotten zusammenzupacken und zu gehen. Aber wohin? Ohne jegliche finanziellen Rückhalt? Ich habe ja nicht einmal mehr ein Auto, in das ich mich setzen und wegfahren kann. Ich bin ein Gefangener, ausgeliefert, ohne jeglichen Handlungsspielraum. Gleichzeitig habe ich – und das ist sicherlich ein ganz entscheidendes Argument – trotz allem noch Gefühle für A. Ich liebe diese Frau und in meinem Innern ist ganz tief verwurzelt, den Rest meines Lebens mit ihr verbringen zu wollen. Aber so? Dann wird der Rest meines Lebens nicht lange währen – und ich war ja gestern schon verdammt nah dran am Ende.

16. Juni 

Ein Tag ohne besondere Vorkommnisse. Wir haben weiter darüber geredet, was am 14. geschehen ist, sind uns einig geworden, das Derartiges nie wieder vorkommen wird und wir alles tun werden, um wieder zueinander zurückzufinden. Wahrscheinlich waren wir an diesem Tag auch noch zusammen einkaufen, haben abends gekocht und ferngesehen. Ich weiß es nicht mehr. Die Grundstimmung zwischen uns war jedenfalls die, dass ich bleibe, dass wir beide versuchen wollen, dieses fürchterliche Ereignis zu vergessen und den gemeinsamen Weg weiter gehen wollen. 

17. Juni 

Gegen 8 Uhr werde ich von A. geweckt. „Steh’ auf! Die Polizei ist da.“

Polizei? – Ich habe Mühe, meine Gedanken zu sortieren und zu begreifen, wo ich bin. Schließlich schäle ich mich aus dem Bett, ziehe meinen Hausanzug an und trete auf den Flur. Dort stehen vier (!) Uniformierte in voller Montur und Bewaffnung. Auf Helm und Schild haben sie freundlicherweise verzichtet. Kopfschüttelnd gehe ich ins Bad, weil das nun mal mein erster Gang nach dem Aufstehen ist. Daran werde ich nicht gehindert. Ich ahne, dass dieser Auftritt etwas mit meinem Ausflug zum S-Bahndamm zu tun haben muss, kann mir aber keinen Reim darauf machen. Zurück aus dem Bad mache ich nach einem kurzen „Guten Morgen“ deutlich, dass ich jetzt in die Küche gehen möchte, um mir eine Tasse Kaffee zuzubereiten. Dagegen gibt es keine Einwände. Zwei Uniformierte, ein junger Mann und eine junge Frau, begleiten mich, die anderen beiden warten im Flur. Meine höfliche Frage, ob sie auch einen Kaffee haben möchten, wird verneint. Offenbar war ich damit schon wieder nahe an der Beamtenbestechung. Meine Kaffeetasse in der Hand führe ich die blaue Prozession an über den Flur ins Speisezimmer. A. im rosafarbenen Nachthemd kommt mit und setzt sich neben mich an den großen marmornen Esstisch. Erstaunlich, denn üblicherweise war es ihr außerordentlich unangenehm, fremden Menschen ungeschminkt und im Nachthemd zu begegnen. Dieser überfallartige Polizeiauftritt muss sie aber derart beeindruckt haben, dass es ihr schlicht egal war.

Ein junger Mann, offensichtlich der Wortführer der Truppe – auf Rangabzeichen habe ich nicht geachtet – setzt sich auf der anderen Seite des Tisches neben mich und arbeitet seinen Fragekatalog ab: Name, geboren, wann, wo, warum…? Ruhig und freundlich gebe ich Antwort und rauche eine Zigarette nach der andern. Schließlich erlaube ich mir die Frage, was das hier eigentlich soll. Daraufhin erklärt mir der Schnösel, der sich offenbar für etwas ganz Besonderes hält, dass mein „Fall“ von der Bundespolizei an die Berliner Polizei übergeben worden sei und diese sich jetzt um den Zustand meine Person und mein Lebensumfeld zu kümmern habe. Die Situation, die sich den vier Polizeibeamten in unserer Wohnung bot, und die Art und Weise wie ich mit ihnen redete, hätte eigentlich deutlich machen müssen, dass eine Selbstmordgefahr heute – drei Tage nach den Vorkommnissen am Bahndamm – nicht gegeben ist. Den selbsternannten „Kommissar“, der die Befragung durchführt, scheint das alles nicht zu interessieren. Er behauptet sogar, mein Fehlverhalten am 14. Juni hätte einen Hubschrauber-Einsatz ausgelöst. Das ist absoluter Blödsinn. Ich weiß wie sich ein in unmittelbarer Nähe kreisender Hubschrauber anhört und den gab es definitiv nicht.

Höhepunkt dieser höchst merkwürdigen Begegnung mit der Staatsgewalt ist die kategorische Festlegung des geltungssüchtigen Polizisten, ich müsse in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Ich bin empört und mache auch deutlich, dass ich das für vollkommen überzogen halte. Der junge Uniformierte ist nicht zu beeindrucken. Und dann kommt Absurdistan ins Spiel. Er fragt A., ob sie mich denn mit unserem Auto in die Psychiatrie einer nahegelegenen Klinik, rund fünf Kilometer von unserer Wohnung entfernt, bringen könne. Sie lehnt das ab mit der Begründung, sie sei viel zu aufgeregt, um sich jetzt ans Steuer zu setzen. Daraufhin greift der Polizeischnösel zu seinem Mobiltelefon und ordert einen Notarztwagen.

„Wozu denn das?“, erlaube ich mir zu fragen. „Wenn sie sich jetzt nicht in der Lage fühlt, Auto zu fahren, dann können wir doch auch ein Taxi rufen, das den Transport übernimmt. Sie fahren hinterher, wie sie es bei ihr auch getan hätten. Das ist doch viel billiger. Oder noch einfacher: Ich steige in Ihr Polizeiauto ein und Sie liefern mich dort ab.“

„Nein, nein, das geht nicht. Aus rechtlichen Gründen dürfen wir Sie in unserem Wagen nicht mitnehmen.“

Was für ein Bullshit. Nachdem ich im Sommer 2013 leicht alkoholisiert von einem Motorradbullen am Ku’damm angehalten worden war und später auf mein Verlangen zur Blutprobe nach Rudow verbracht wurde, geschah das in einem Polizeiauto. Da gab es keine rechtlichen Bedenken. – Egal. Ich musste mich dem Verdikt des Wichtigtuers beugen und schließlich in den Rettungswagen einsteigen, der jetzt in zweiter Reihe hinter den beiden Polizeiwagen vor dem Haus parkte. So ein irrsinniger Aufwand. Unfassbar! Der Rettungswagen wäre an anderer Stelle sicherlich nötiger gebraucht worden. Ich wollte aber nicht auch noch eine Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt riskieren, indem ich mich weigere, dort mitzufahren.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage sitze ich nun in einem Rettungswagen, ohne in einer akuten Notsituation zu sein. Die Fahrt ist kurz und ehe ich es mich versehe, befinde ich mich in der Psychiatrie auf der Station für die schweren Fälle. Das sei so üblich für Personen, die unter Polizeischutz eingeliefert werden, habe ich mir später sagen lassen. Was sich da um mich herum abspielte, welche Begegnungen ich da machen durfte, war schlicht grausam. Wenn du noch nicht irre bist – hier wirst du es.

Gott sei Dank gibt es einen kleinen Innenhof, wo man der stickigen Hitze im Innern des Gebäudes entkommen kann. Nach einer ersten Befragung durch eine Assistentin wird mir klar gemacht: Entweder meine Lebensgefährtin erscheint und nimmt zu dem Vorfall Stellung oder ich muss mich darauf einrichten, hier vorerst einquartiert zu werden. Ein zwischenzeitlich durchgeführter Alkoholtest hat 0,0 erbracht. Ein hilfreiches Ergebnis.

Der Innenhof ist extrem ungepflegt, tausend Zigarettenkippen auf dem Boden, kaputter Rasen, Unkraut, Schmutz. Ganz und gar kein Ort zum Wohlfühlen. Es ist mir gelungen, eine Flasche Mineralwasser zu organisieren. Damit lasse ich mich auf einer Bank in der Schmutzwüste nieder, zünde mir eine Zigarette an und rufe A. über das Handy an.

„Es tut mir leid, aber du musst herkommen.“

„Nein, ich bin noch so aufgeregt, ich kann nicht Auto fahren.“

„Willst du, dass ich die nächsten Tage und Nächte hier verbringe? Genau das wird nämlich passieren, wenn du nicht kommst. Sie wollen deine Aussage zu dem Geschehen am 14. Juni. Wir wollten heute aufs Land fahren und die nächsten Tage in unserem Sommerhaus verbringen. Wenn du nicht erscheinst, wirst du allein dorthin fahren müssen.“

Das wollte sie natürlich nicht und gut eine halbe Stunde später war sie da, per Taxi. Dann hieß es: Weiter der Dinge harren und irre Gespräche führen, bis endlich die Aufforderung kam, einen Raum zu betreten und dort auf den Chef-Psychologen zu warten. Ein angenehmer Mann mittleren Alters, der noch einmal alles ganz genau wissen will. Vor allem natürlich, wie es zu meinem Aussetzer mit Ziel S-Bahndamm kommen konnte. Ich erzähle, A. erzählt und offenbar müssen wir sehr überzeugend auf den Psychologen gewirkt haben, so dass er letztlich einwilligt, mich nicht hier zu behalten, sondern – natürlich gegen ärztlichen Rat, das ist üblich so – in die Freiheit zu entlassen. Endlich habe ich das „Entlassungsschreiben“ in der Hand, das mir einen Aufenthalt in der Irrenanstalt erspart. Unten am Empfang lasse ich ein Taxi rufen. Nach 15 Minuten werden wir abgeholt und weitere 10 Minuten später sind wir zu Hause. Dann packen wir unsere Sachen ein und fahren nach W.. Beinahe so, als sei nichts geschehen. 

Nachspiel: 

Im Nachklang gab es auch noch Ärger in Form von zwei Rechnungen à 360 Euro für den Einsatz der Notarztwagen. Letztlich musste ich nur eine bezahlen, weil eine Richterin mir Recht gab und das Vorgehen des übereifrigen Polizisten am 17. 06. auch für unangemessen hielt. Abgesehen davon, dass mein nächtlicher Ausflug an den Bahndamm dennoch ziemlich kostspielig war, habe ich Glück gehabt – in mehrfacher Hinsicht: Die aufmerksame Anwohnerin; mein fehlender Mut, den letzten, entscheidenden Schritt zu tun; der umsichtige Einsatz der beiden Bundespolizisten; die sehr rücksichtsvollen Reaktionen der wenigen Freunde, die von diesem Vorfall wussten und natürlich die ausführlichen, versöhnlichen Gespräche mit meiner Partnerin. All dessen bin ich mir sehr bewusst und ich werde garantiert keinen Versuch mehr unternehmen, dem „Chef“ ins Handwerk zu pfuschen. Das Leben ist ein kostbares Geschenk, mit dem ich seitdem sehr sorgsam umgehe

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Endlich ein Ratgeber, der nicht aus dem Amerikanischen übersetzt ist. Die Umstände in USA sind anders als in Deutschland und so ist es wenig sinnvoll, amerikanische Arbeiten als Lebenshilfe für Deutsche eins zu eins zu übernehmen. „Strategie der Sieger – oder – Wer, wenn nicht ICH?“ ist geschrieben von Hubert von Brunn und gibt seinen Rat entsprechend den deutschen Gegebenheiten mit einem Anhang „Mental Fitness Check“, der zum Aufarbeiten der - jetzt - erkannten Defizite anregt. „Strategie der Sieger“ ist erhältlich im Buchhandel oder direkt zu bestellen beim Verlag hier.

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