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Der behinderte Engel

Von Hubert von Brunn 

Der Weihnachtsmann war sauer. So sauer, wie ihn sein Gehilfe Walter in all den Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten, in denen er bei ihm in Diensten war, noch nicht erlebt hatte. Gern hätte er sich verdrückt oder unsichtbar gemacht, aber Ersteres ging nicht und das Zweite konnte er noch nicht, dafür war er noch nicht lange genug hier. Also machte er sich auf seinem dreibeinigen Schemel so klein wie nur irgend möglich, hoffend, dass das nächste Donnerwetter nicht ihn treffen möge.

„Stell’ mir eine Verbindung zu Meister Petrus her“, befahl der Weihnachtsmann mit seiner dunklen, sonoren Stimme. „Unverzüglich, wenn ich bitten darf.“

„Ja, Chef, sofort. Ich beeile mich, aber zwei Minuten wird es schon dauern, bis ich Kontakt habe, und ob Meister Petrus dann auch gleich mit mir…“

„Lass’ dich bloß nicht abwimmeln“, schimpfte der Weihnachtsmann und zog seine dichten weißen Augenbrauen drohend nach oben. „Es ist wichtig, sehr wichtig. Sag’ ihm das!“

Der Gehilfe Walter setzte sich nun aufrecht auf seinen Schemel, schloss die Augen und konzentrierte sich auf Meister Petrus. Den hatte er zwar noch nie zu Gesicht bekommen – so weit war er noch nicht –, aber der Chef hat ihn ihm beschrieben und so hatte er ein Bild vor seinem inneren Auge, das es nun galt, schnellstmöglich telepathisch zu erreichen. Technischer Hilfsmittel wie Telefon oder Morseapparat zur Kommunikation über große Entfernungen bedurfte es hier oben nicht. Hier setzte man einfach seine telepathischen Kräfte ein und stellte den Kontakt her – vorausgesetzt man hatte ein klares Bild von dem Empfänger. Deshalb klappte das mit dem Lieben Gott nicht. Von ihm hatte man Walter kein Bild gegeben, weil man es nicht wollte, oder nicht konnte. Irgendwann würde er schon dahinter kommen. Zeit genug hatte er ja – bis in alle Ewigkeit.

„Wer stört? Was gibt’s?“ war eine mächtige Stimme zu vernehmen.

‚Oh Gott, ich danke Dir’, betete Walter leise voller Inbrunst. ‚Danke, dass Du so gnädig warst, Meister Petrus so gnädig zu stimmen, dass er bereitwillig mit meinem gnädigen Herrn zu sprechen geruht.’ Dem getreuen Weihnachtsmann-Gehilfen fielen mindestens drei Tonnen Meteoritengeröll vom Herzen. Jetzt konnten die beiden großen Heiligen Männer dank seiner erfolgreichen Kontaktaufnahme miteinander reden. Er selbst wurde nicht mehr gebraucht und durfte sich entspannen.

„Ich bin’s, Meister Petrus“, meldete sich der Weihnachtsmann – jetzt in deutlich freundlicherem Ton als er ihn zuvor seinem Gehilfen gegenüber angeschlagen hatte. „Ich habe ein Problem, und zwar ein ziemlich großes.“

„Aha“, gab Petrus trocken zurück. „Und was habe ich damit zu tun?“

„Ziemlich viel, um nicht zu sagen, alles! Du hast mir einen fluglahmen Engel als Christkind zugeteilt. Was soll ich damit?“

Walter, der in der langen Zeit, die er nun schon für den Weihnachtsmann arbeitete, noch nie ein böses Wort aus seinem Munde vernommen hatte, entging nicht, dass der Chef selbst Meister Petrus gegenüber seinen Unmut kaum verbergen konnte.

„Ach du meinst Sylvia, das Jungengelchen mit dem gestutzten Flügel?“

„Ja, genau die meine ich.“

„ Verehrter Niko“, gab Meister Petrus nun ruhig, aber bestimmt zu verstehen, „da kann ich Dir leider nicht helfen. Du hast, wie in jedem Jahr, soundso viele Engel beantragt, die dir in der Weihnachtszeit als Christkinder bei deiner Arbeit auf Erden behilflich sein sollen.“

„Genau so ist es“, warf Walters Chef ungeduldig ein.

„Und? Hast du die gewünschte Anzahl bekommen?“

„Ja schon, aber einer der Engel, diese von dir erwähnte Sylvia, taugt nicht zum Christkind.“

„Ach so! Und warum nicht?

„Weil sie mit ihrer Behinderung nicht mühelos elegant daher schweben kann, wie es sich für ein ordentliches Christkind gehört. Die Menschen erwarten das.“

„So, so, die Menschen erwarten das?“ Jetzt wurde Meister Petrus’ Ton etwas schärfer. „Und ich erwarte, dass man meinen Anweisungen Folge leistet und seine Arbeit ordentlich macht. Genau wie du!“

Oh je, da musste etwas ziemlich Schwerwiegendes vorgefallen sein. Das war dem Gehilfen Walter in diesem Moment sonnenklar, dem Weihnachtsmann erst recht.

„Was ist passiert?“ fragte dieser so sachlich wie möglich.

„Das kann ich dir sagen. Jungengel Sylvia ist ja noch nicht so lange bei uns, noch keine hundert Jahre. Aber sie hat sich von Anfang an gut gemacht, und so habe ich sie, wenn Not am Mann war, hin und wieder auch als Schutzengel eingeteilt.“

„Oho, da hattest du aber großes Vertrauen“, warf der Weihnachtsmann ein.

„Ja genau, das hatte ich, und dieses Vertrauen wurde zutiefst enttäuscht. Bei ihrer letzten Schutzengel-Schicht hätte sie um sechs Uhr in der Frühe antreten und den kleinen Benjamin unter ihre Fittiche nehmen sollen. – Aber Madame hat verschlafen, verstehst du, einfach verpennt. Und so kam es, wie es kommen musste. Benjamin, ein aufgeweckter Achtjähriger, hat sich um sieben Uhr auf den Schulweg gemacht, so wie jeden Tag. Aber an diesem Morgen hat er nicht aufgepasst und beim Überqueren der Straße – die Ampel war grün für ihn – ein Moped, das erlaubter Weise rechts abgebogen ist, übersehen. Rums, das war’s! Jetzt liegt der kleine Racker mit mehreren Knochenbrüchen und einer Gehirnerschütterung kurz vor Weihnachten im Krankenhaus.“

„Hmmmm,“ grummelte der Weihnachtsmann und strich nachdenklich seinen langen Bart, „das ist natürlich sehr traurig.“

„Ja, das ist es“, polterte jetzt Meister Petrus, „das ist es wirklich. Und alles nur, weil Jungengel Sylvia verschlafen hat. Wo gibt’s denn so was? Ein Schutzengel der verpennt? Das geht gar nicht. Ein Schutzengel hat gefälligst zur Stelle zu sein, wenn er gebraucht wird, sonst ist er nutzlos.“

„Da hast du wohl recht.“

„Na siehst du.“ Meister Petrus’ Stimme wurde nun wieder etwas gemäßigter. „Was hätte ich tun sollen? Sie in das Heer der Betengel verbannen, die nichts anderes können, als ununterbrochen ‚Vaterunser’ und ‚Ave Maria’ zu beten? Von denen gibt’s genug. Was ich brauche, sind tatkräftige Engel, die einschreiten, wenn ein guter Mensch ihrer Hilfe bedarf. Sylvia hat das Zeug dazu, aber ungestraft konnte ich ihr diese Nachlässigkeit, dieses Versagen nicht durchgehen lassen. Also habe ich ihr den rechten Flügel gestutzt und sie aus der Riege der Schutzengel verbannt, so lange bis der Flügel wieder nachgewachsen ist.“

„Das kann dauern“, warf der Weihnachtsmann ein, sein Haupt nachdenklich wiegend.“

„Ja, das kann dauern. Aber eines Tages ist der Flügel nachgewachsen und Jungengel Sylvia kann sich aufs Neue bewähren.“

Meister Petrus setzte eine Pause und auch Walters Chef verharrte kurz schweigend. Doch bei allem Verständnis für die erzieherische Maßnahme des großen Wächters an der Himmelspforte, wollte er nicht einsehen, weshalb er, der, was Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft anlangte, über jeden Zweifel erhaben war, indirekt unter dem Versagen von Jungengel Sylvia leiden sollte.

„Das ist alles sehr richtig, was du getan hast, natürlich, was sonst“, gab er sich nun um Konsens bemüht, „aber du weißt auch, dass ich – im Gegensatz zu dir – nur einmal im Jahr Saison habe. Gerade weil das so ist, setzen die Menschen große Erwartungen in mich und alles muss auf den Punkt genau stimmen. Da kann ich mich doch nicht mit einem flügellahmen Christkind blamieren.“

„Glaube nicht, das ich dein Problem nicht erkenne“, gab Meister Petrus wohlwollend zu verstehen, „aber ich kann es nicht lösen. Ich bin machtlos.“

Der Weihnachtsmann, normalerweise die Ruhe in Person, war jetzt nahe dran, aus seinem roten Mantel zu fahren.

„Du und machtlos?! Willst du mich verar…, äh, veräppeln? Schicke mir an Stelle der kupierten Sylvia einfach einen gesunden Engel, und die Sache hat sich.“

„Mann, Mann, Mann, Gevatter Niko, du bist aber wirklich schwer von Begriff“, mokierte sich Meister Petrus. Diesen Engel hätte ich dir längst geschickt, wenn es ihn gäbe. Habe ich aber nicht, verstehst du! Wir haben einen eklatanten Mangel an universell tauglichen Engeln. Fachpersonal, das man sowohl als zuverlässige Schutzengel als auch als Christkind einsetzen kann, ist kaum mehr zu haben. Nur noch lasche Betengel auf Wolke Sieben. Willst du einen von denen?“

„Nein, nein, Gott bewahre“, beeilte sich der Weihnachtsmann abzuwiegeln und schüttelte unwillig sein weises Haupt. „Das bringt gar nichts. Die stehen nur in der Ecke rum und machen ein betretenes Gesicht, sodass den Menschen gleich zum Heulen zumute ist. ‚Oh du Fröhliche’ kriegen die nie hin. Dann doch lieber den von dir empfohlenen Jungengel Sylvia. Sie wird mit ihrer Behinderung schon irgendwie klar kommen.“

„Schön, damit hätten wir das also geklärt“, stellte Meister Petrus geschäftsmäßig fest. Dann kann dein Gehilfe seinen Transmitter abstellen und den Kanal freigeben. Wir haben uns ohnehin ein wenig verplaudert und es hängen jede Menge Anfragen in der Warteschleife. Ich weiß nicht warum, aber vor Weihnachten ist hier oben immer die Hölle los.“

Die letzte Bemerkung des Himmelspfortenwächters ließ den Gehilfen Walter, der während des Gesprächs zusammengekauert auf seinem Schemel gesessen hatte, in die Höhe schnellen. Es gab Worte, die durfte man niemals in den Mund nehmen – na ja, er jedenfalls nicht. Bei Meister Petrus war das wohl etwas anderes. Jedenfalls war er jetzt wieder hellwach und der Schreck hat den telepathischen Draht abreißen lassen. Da Meister Petrus, wie er mitbekommen hatte, das Gespräch aber sowieso beenden wollte, war ihm das gerade recht. So ein telepathischer Interruptus verursachte zwar immer leichte Kopfschmerzen, aber er ersparte ihm die formelle und umständliche Abmeldung aus dem offenen Kanal.

„Der Jungengel Sylvia möge kommen“, unterbrach der Chef Walters Gedanken. Erleichtert registrierte er, dass jener zu seinem gleichmütig freundlichen Tonfall zurückgefunden hatte.

Mit einfachen Engeln ging die telepathische Kontaktaufnahme ganz leicht. Die hatten ja kaum externe Anfragen zu beantworten. Da genügte das Bild – das hatte er bereits abgespeichert – ein starker Gedanken, und schon klingelte es dort im Kopf und der Adressat wusste sofort, was er zu tun hatte.

 

Einen Wimpernschlag später schwebte Engelchen Sylvia auf einer kleinen Kumuluswolke heran. In gehörigem Abstand blieb sie stehen und senkte verschämt ihr goldgelocktes Köpfchen.

„Ich höre“, sagte der Weihnachtsmann mit freundlicher Strenge.

„Es tut mir leid“, ließ sich ein zaghaft-zartes Stimmchen vernehmen, „ich wurde zum Christkindel-Dienst eingeteilt, obwohl ich eine Behinderung habe und dieser Aufgabe wahrscheinlich nicht gerecht werden kann. Aber dafür kann ich nichts…“

„Oh doch, du kannst sehr wohl etwas dafür“, unterbrach Walters Chef diese klägliche Entschuldigung in der ihm gemäßen wohlwollenden Strenge und hob seine behandschuhte Rechte mit dem mahnend ausgestreckten Zeigefinger.

„Ich weiß um deine Verfehlung und um die Strafe, zu der dich Meister Petrus dafür verdonnert hat. Das hast du dir alles selbst zuzuschreiben und ich denke, es ist an der Zeit, sich dazu zu bekennen und nicht länger um den heißen Brei herumzureden.“

Mit gesenktem Haupt stand der kleine Engel auf seiner Kumuluswolke, dankbar, dass die herabfallenden blonden Locken die rotglühenden Wangen etwas verdeckten.

„Ja, Heiliger Mann“, kam es verschämt über Sylvias wundervoll geschwungenen Lippen, die den Gehilfen Walter vom ersten Augenblick an in Entzücken versetzt hatten, „ich habe einen Fehler begangen und will alles dafür tun, um mein Versagen durch gute Taten wieder wett zu machen.“

„Das ist ein lobenswerter Vorsatz, und du wirst in Kürze Gelegenheit haben, mich von dessen Ernsthaftigkeit zu überzeugen.“

Damit erhob sich der Weihnachtsmann aus seinem bequemen Wolkensessel – im ersten Moment noch ein wenig sitzsteif, sich dann aber zu seiner vollen, imposanten Größe aufrichtend – und winkte den Gehilfen Walter zu sich.

„Sag’ den anderen Bescheid, es geht los. Sie wissen alle was zu tun ist, und es gibt wahrlich genug zu tun. Sag’ ihnen, der behinderte Engel bleibt bei mir. Ist wohl besser so“, grummelte er dann noch kaum hörbar in seinen Bart.

Walter hatte verstanden und war zufrieden, dass sich die Sache mit dem Jungengel und seinem gestutzten Flügen nun doch noch zum Guten gewendet hatte. Er fand die kleine Sylvia wirklich zuckersüß und auf Erden, damals, als das noch eine Rolle spielte, hätte er eine grandiose Charmeoffensive gestartet, um dieses brave Engelchen zu einem wüsten Teufelchen werden zu lassen. – Oh Gott, nein! Das habe ich nicht wirklich gedacht. Das war damals, als ich noch, na ja, ein junger Mann war und meine Gedanken beim Anblick eines solchen Sahnestückchens… – oh näh, ich rede mich um Kopf und Kragen. Jetzt, hier, ich meine…im Hier und Jetzt hier oben bin ich geläutert und es kann mich doch eigentlich gar nicht mehr interessieren… In dem Moment wusste der Gehilfe Walter, dass er noch weit davon entfernt war, wirklich geläutert zu sein und er wusste auch, dass sich sein doch noch sehr irdisch geprägter Gedanke an den Jungengel Sylvia mindestens um hundert Jahre zurückgeworfen hat, ehe er sich bei der Elite-Compagnie der Cherubime würde bewerben können. Hundert Jahre mindestens, wenn nicht zweihundert. Aber er hatte ja Zeit, Zeit ohne Ende.

Mit einer resignierenden Handbewegung trabte er hinüber zum Wolkenstall und führte den Esel seines Chefs heraus. Das Grautier war über und über mit in buntem Geschenkpapier eingewickelten Paketen beladen, größere und kleinere, aber es sah schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war. Die Pakete waren allesamt nicht schwer und bedeuteten keine wirkliche Last für den Esel.

„Heiliger Mann, darf ich Sie etwas fragen?“ flötete Jungengel Sylvia als sie des voll bepackten Esels ansichtig wurde.

„Aber ja, nur zu“, antwortete der Weihnachtsmann gutmütig.

„Und Sie sind mir nicht böse?“

„Ach was, weshalb sollte ich böse sein? – Was willst du wissen?“

„Na ja, so ein Esel ist ja ein recht kleines Tier. Und dann muss es auch noch voll beladen mit Geschenken durch tiefen Schnee stapfen… Ich meine, sollte man ihn nicht schonen und an seiner Stelle – so wie es Santa Claus in Amerika macht – lieber ein Rentiergespann einsetzen? Da kann man sehr viel mehr Geschenke unterbringen und zwei oder gar vier Rentiere sind sehr viel stärker als so ein kleiner Esel. Abgesehen davon ist es für Sie, den Weihnachtsmann, und seine Begleitung, also mich, doch auch sehr viel bequemer, sich von einem Schlitten mit Rentieren ziehen zu lassen, anstatt neben einem störrischen Esel durch den Schnee zu stapfen.“

Der Weihnachtsmann hatte sich Sylvias Rede, die zunehmend selbstbewusst und bestimmt daher kam, ruhig angehört. Lediglich seine buschigen Augenbrauen haben sich mehrmals in einem steilen Bogen nach oben geschoben. Dem Gehilfen Walter gefiel das gar nicht. Sylvias Rede nicht und auch nicht die mephistophelisch (Entschuldigung für dieses Wort, aber ein passenderes gibt es dafür nicht) gebogenen Augenbrauen, die, wie er aus Erfahrung wusste, nichts Gutes zu bedeuten hatten. Bedachtsam legte der Weihnachtsmann beide Arme auf den verlängerten Rücken des Esels, also dort wo der buschige Schwanz zum Vorschein kam. Und – das war Walter vollkommen klar – er war ‚not amused’. Dem entsprechend fiel seine Antwort auf Sylvias Rede aus.

„Wohlan, bis jetzt dachte ich wirklich, du seist ernsthaft bemüht, den Makel, der durch dein klägliches Versagen an dir haftet, durch besonderen Einsatz auszulöschen. Da habe ich mich wohl getäuscht.“ Und jetzt wurde der Chef richtig laut. „Aber dann kommst du daher und erzählst mir etwas von Santa Claus und seinem Rentierschlitten. – Was zum Teufel (oh Gott, nicht schon wieder so ein Wort, dachte Walter und hielt sich die Ohren zu) hat dieses neumodische Getue mit unserem verehrten Heiligen von Myra zu tun, auf dessen Wirken unsere Tradition des Beschenkens zu Weihnachten zurückgeht? Hä, kannst du mir sagen was?“

Verdattert stand Jungengel Sylvia da, nicht in der Lage, auch nur einen Ton von sich zu geben. Ihr war schlagartig klar geworden, dass sie den Weihnachtsmann an einem extrem empfindlichen Punkt getroffen hatte und sie den Traum vom Christkind in diesem Jahr nun endgültig begraben konnte.

„Ha, da fällt dir nichts mehr ein“, sagte der Weihnachtsmann nach einer längeren Pause, „ das kann ich mir denken.“ Gedankenversunken fuhr er fort:

„In machen Jahren läuft einfach gar nichts. Alles geht daneben, nichts als Ärger. Da kannst du machen, was du willst. – Und jetzt auch noch Jungengel Sylvia, die nicht nur am Flügel behindert ist, sondern offenbar auch am Kopf. Womit habe ich das verdient?“

Die Situation schien ziemlich verfahren und der Gehilfe Walter hatte ernsthaft Sorge, ob es in dieser Nacht überhaupt noch gelingen könnte, dass sein Chef, und mit ihm der behinderte Engel die ihm zugeteilten Kunden besuchen und mit Geschenken beglücken würde. Aber dann geschah etwas, das weder Walter, geschweige denn der Weihnachtmann, erwartet hätten. Mit leichter Schlagseite, weil ja nur der linke Flügel richtig funktionierte, schwebte Sylvia heran, nahm den Weihnachtsmann in den Arm und säuselte ihm ins Ohr:

„Das war eine dumme Idee von mir. Ich weiß, dass Sie um Längen besser sind als Santa Claus. Sie sind der Echte, der Wahre, und Sie brauchen keinen bequemen Rentierschlitten. Sie sind ein starker Mann, stapfen neben Ihrem beladenen Esel durch den tiefen Schnee, und es macht Sie glücklich, so wie es ist. So wie es mich glücklich machen wird, Ihnen bei dieser schweren Arbeit zur Seite zu stehen. – Zeigen Sie Verständnis und Langmut mit Jungengelchen, wie ich eines bin. Wir sind dumm und unerfahren und reden manchmal wirres Zeug. Das sollte Sie nicht beeindrucken, denn Sie wissen es viel besser. Ich bin dabei mit vollem Herzen, und ich werde Sie nicht enttäuschen. Das verspreche ich.“

Diese Kleine ist total süß, dachte Walter, der immer noch den bepackten Esel am Strick hielt und den Blick von jenem zauberhaften Geschöpf einfach nicht abwenden konnte. Seine Gedanken waren immer noch irdisch, und das gab, dessen war er sich sicher, bestimmt noch einmal hundert Jahre aufs Negativkonto. – Was soll’s, er hatte Zeit bis in alle Ewigkeit.

Sylvias Gesäusel in seinen Ohren ließ den Weihnachtsmann nicht unbeeindruckt. Er schob sie sanft zur Seite und meinte dann leicht verlegen hüstelnd:

„Ist ja gut, ist ja gut, wir haben alle unsere kleinen Schwächen.“

Dieses Geständnis wiederum hat den Gehilfen Walter doch ziemlich irritiert. Dass er Schwächen hatte, stand außer Frage. Aber der Weihnachtsmann, sein Chef…? In gewisser Weise geht es hier oben nicht viel anders zu als dort unten auf der Erde, schoss es Walter durch den Kopf. Oben, unten, berühmt, nicht berühmt – letztlich alles egal. Ob mit sterblicher Hülle, Gebrechen, Schmerzen, Angst und Nöten oder losgelöst von alledem – der Mensch bleibt Mensch, selbst im Paradies – oder in der Hölle, aber diese Variante durfte er ja nicht denken.


„Es ist Zeit, wir müssen los“, sagte der Weihnachtmann bestimmt und Jungengel Sylvia klatschte begeistert in die Hände.

„Ja, es geht los! Lasst uns den Menschen Freude im Herzen und Friede auf Erden bringen. Das ist doch unser Job, nicht wahr?“

Der Weihnachtsmann sagte nichts mehr, nahm den Strick, der um des Esels Hals gebunden war, aus der Hand seines Gehilfen und trabte gemessenen Schrittes los. Jungengel Sylvia flog mit leichter Schlagseite hinterher. Mit ihrem Handicap konnte sie natürlich nicht so elegant dahingleiten, wie sie das mit zwei unversehrten Flügeln hätte tun können, und anstrengender war es auch. Aber sie biss die Zähne zusammen, und wollte sich nichts anmerken lassen. Schließlich hatte sie etwas gut zu machen und wollte dem Weihnachtsmann beweisen, dass auch ein Engel mit Behinderung gute Arbeit leisten kann. Er sollte keinen Grund zur Klage haben. Also zog sie, wie es ihre Aufgabe als Christkind war, unermüdlich ihre Kreise und versprühte mit ihrem Zauberstab goldenen Sternenstaub, der die gesamte Umgebung in ein magisches Glimmen versetzte und die Nacht in ein mystisches Licht tauchte.

Gerne hätte sie ihren Weihnachtsmann gefragt, weshalb er sich – wenn er schon nicht mit einem bequemen Rentierschlitten unterwegs sein wollte – als Einsatzort nicht eine Stadt mit hell erleuchteten Straßen und geräumten Gehsteigen ausgesucht hat, sondern diese hügelige Gegend mit kleinen Dörfern und verstreut gelegenen Gehöften. Hier durch den knietiefen Schnee zu stapfen war wirklich beschwerlich für den großen, beleibten Mann. Immer wieder hielt er inne, prustete und wischte sich mit einem rot-weiß-karierten Schnupftuch den Schweiß von der Stirn. Aber die Gefahr, sich mit dieser Frage wieder den Unmut des Chefs zuzuziehen, erschien Sylvia dann doch zu groß und so zog sie es vor, stumm ihrer Arbeit nachzugehen und das Land, die Bäume, die Häuser, Stallungen und Scheunen mit güldenem Schimmer zu überziehen.

„Das machst du wirklich richtig gut“, lobte der Weihnachtsmann schwer atmend, als er wieder einmal innehielt, um zu verschnaufen.

„Oh, das freut mich sehr“, bedankte sich Christkind Sylvia artig. Dieses unerwartete Lob verlieht ihr zusätzlichen Schwung und übermütig setzte sie zu einem Looping an. Mitten in der Aufwärtsbewegung geriet sie jedoch ins Trudeln und wäre ums Haar abgestürzt. Für einen Augenblick hatte sie in ihrer Freude vergessen, dass sie eine Behinderung hat, die derlei riskante Manöver nicht erlaubt. Im letzten Moment konnte sie sich fangen und über die schneebedeckte Bodenwelle hinweggleiten, in der sie beinahe kopfüber gelandet wäre. Oh mein Gott, wie peinlich wäre das gewesen: Ein Christkind, das in einer Schneewehe verschwindet und womöglich vom Weihnachtsmann an den Beinen herausgezogen werden muss…! Sylvia schielte hinunter zu ihm, um festzustellen, ob er von ihrer misslungenen Flugfigur etwas mitbekommen hatte. Aber er zeigte keinerlei Reaktion. Offenbar hat er genug mit sich und dem Esel zu tun, um voran zu kommen, und den Beinahe-Absturz nicht bemerkt.

‚Jetzt musst du dich aber wirklich zusammenreißen’, maßregelte Christkind Sylvia sich selbst und zog sich zur Vergewisserung fest am Ohrläppchen. Der große Bauernhof, in dem der Weihnachtsmann und sie ihren letzten Auftritt in dieser Heiligen Nacht haben würden, lag vor ihnen. In wenigen Minuten würden sie da sein und ab jetzt hieß es wieder: Volle Konzentration und keine Kapriolen. Bisher ist ja alles großartig gelaufen. Strahlende Kinderaugen, glückliche Eltern und Großeltern und auch der Weihnachtsmann war jedes Mal bestens gelaunt, wenn sie nach einer Bescherung wieder auf der Straße standen und er in seinem dicken Buch nachsah, welche Familie als nächstes an der Reihe sein würde. Wenn er nichts zu kritisieren hatte – so gut kannte sie ihn inzwischen – dann war alles zu seiner vollsten Zufriedenheit. Zusätzlich Lob zu spenden, hielt er für überflüssig.

Im Innenhof angekommen wurde deutlich, dass es sich bei dem Anwesen nicht um einen einfachen Bauernhof handelte, sondern um ein hochherrschaftliches Gut mit einem prächtigen Herrenhaus im Zentrum, seitlich flankiert von großzügig dimensionierten Wirtschaftsgebäuden, Stallungen, Scheune und was noch zu so einem schicken Gut gehörte.

„Ha, das gefällt mir“, ließ der Weihnachtsmann sein Christkind wissen. „Es ist noch gar nicht so lange her, höchstens hundert Jahre, da hatte ich sehr oft in solchen Gutshöfen zu tun. Vom arroganten Adel in den Städten oft als ‚Krautjunker’ beschimpft, haben diese Leute mit ihrem Fleiß und ihrem umsichtigen Wirtschaften dafür gesorgt, dass die Müßiggänger in den Städten nicht verhungert sind. – Und sie haben sich sehr fürsorglich um ihre Angestellten gekümmert. Gerade an Weihnachten – da waren sie alle eine große Familie… Na ja, damals war’s. Bin mal gespannt, was uns heute hier erwartet.“

Aufmerksam folgte Christkind Sylvia den Erinnerungen ihres Chefs, der seinen kleinen Ausflug in die Vergangenheit natürlich auch nutzte, um durchzuatmen und seine Stimmbänder wieder geschmeidig zu machen. Abgesehen von seiner imposanten Erscheinung war die sonore, durchdringende und dabei gewinnenden Stimme sein größtes Kapital. Ein Weihnachtsmann, dünn wie ein Hering und mit einer piepsigen Fistelstimme ausgestattet, kann gleich zuhause bleiben. Den nimmt keiner ernst.

Jetzt war ihr Weihnachtsmann wieder die Ruhe selbst und setzte den bronzenen Türklopfer mit einem dreifachen „Klock, Klock, Klock“ in Bewegen. Augenblicklich öffnete sich die schwere Eichentür und der Blick wurde frei auf eine geräumige, sehr hohe Lobby. Der ganz in Schwarz gekleidete Mann, der die Tür geöffnet hatte, wies mit einer ausladenden Armbewegung auf die breite, mit dicken Teppichen belegte Holztreppe, die, an mehreren Podesten die Richtung ändernd, nach oben führte.

„Wenn Sie bitte so freundlich sein möchten“, sagte der Mann in distinguiertem Ton. „Die Herrschaften erwarten Sie im Salon in der ersten Etage.“

„Danke, danke, mein Lieber“, antwortete der Weihnachtsmann huldvoll und schritt mit einer nonchalant Geste seiner Linken, den prall gefüllten Jutesack über seiner rechten Schulter auf die Treppe zu.

„Das gefällt mir wirklich ausgesprochen gut“, raunte er halblaut seinem Christkind zu. „Das ist so wie in früheren Zeiten. Schön, dass es so etwas noch gibt.“

Oben angekommen, nahm sie ein anderer, ebenfalls ganz in Schwarz gekleideter Herr in Empfang und geleitete sie zum Salon. Dort waren um einen riesigen, geschmackvoll geschmückten Weihnachtsbaum gut und gern um die dreißig Personen im Sonntagsstaat versammelt, Menschen jeden Alters – vom Säugling, der vor wenigen Tagen erst das Licht der Welt erblickt hat, bis hin zur weißhaarigen Greisin, die diese Welt wohl bald verlassen und bei Meister Petrus vorstellig werden würde. Christkind Sylvia war begeistert und zauberte mit ihrem Sternenstaub, den sie großzügig verteilte, ein heiteres Strahlen in die Gesichter. Selbst das Baby wollte diesen feierlichen Moment nicht durch sein Weinen stören und brabbelte vergnügt in seiner Wiege.

Der Weihnachtsmann – bestens vorbereitet wie immer – erledigte routiniert, aber mit völliger Hingabe seine Arbeit. Paket für Paket zog er aus dem Jutesack, machte dazu auf den zu Beschenkenden bezogene launige Bemerkungen, ließ sich von den Kindern Gedichte aufsagen und lobte die Menschenschar für das am Ende stimmungsvoll und weitgehend fehlerfrei vorgetragene Weihnachtslied ‚Oh du Fröhliche’. Zum Abschied durfte er jedes Einzelnen Hand schütteln, stets begleitet von einem freundlichen Wort.

Schließlich öffnete der Herr ich Schwarz, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, die Tür vom Salon zur Galerie. Weihnachtsmann und Christkind hatten ihre Pflicht getan, alle waren glücklich, die Bescherung war beendet. Im Hinausgehen zog der Weihnachtsmann sein rot-weiß-kariertes Schnupftuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das offene Feuer im Kamin und die vielen Menschen haben für eine gewisse Überhitzung im Salon gesorgt, und der Weihnachtsmann hatte es offenbar eilig, an die frische Luft zu kommen. Zu eilig! Noch immer mit seinem Schnupftuch beschäftigt, hat er übersehen, dass die Galerie zu Ende war und die Treppe begann. Dem Mann in Schwarz war kein Vorwurf zu machen. Er hatte freundlich den Weg gewiesen, und dass der Weihnachtsmann nicht aufpasst, wohin er tritt, war nicht seine Schuld.

Ein gewaltiges Rumpel und Tosen erfüllte das Haus, als der schwere Mann, den ersten Tritt der Treppe nach unten verfehlend, ins Straucheln kam und Hals über Kopf 21 Stufen hinunter polterte, am ersten Podest gegen die Mauer stieß, eine Wendung vollzog und auch den nächsten Treppenabschnitt Stufe für Stufe mit allen möglichen Körperteilen berührte – nur nicht mit den Sohlen seiner Stiefel.

Christkind Sylvia hatte in dem Moment, als ihr Chef ins Straucheln kam, die Situation sofort erfasst und die Gefahr erkannt. Am Ende des zweiten Treppenabschnitts, von oben gesehen, war über die gesamte Breite ein Heizkörper installiert. Gegen dessen scharfkantige Rippen würde der Weihnachtsmann prallen, wenn sie nichts dagegen unternahm – und das konnte sehr unangenehme Folgen haben. Trotz ihres gestutzten Flügels war sie schnell genug unten, um den dicken Teppich auf dem zweiten Treppenabsatz aus den Messingstäben, mit denen er auf jeder Stufe gehalten wurde, herauszuziehen, daraus ein Polster zu formen und es vor den Heizkörper zu stellen. Keine Sekunde später hätte sie mit dieser schweren Arbeit fertig sein dürfen, denn da rauschte das seltsame Knäuel in Rot auch schon heran und knallte gegen das Teppichpolster. Für einen Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können, so still war es in dem Haus. Dann aber brach der Lärm los. Aufgeregt riefen die Menschen durcheinander, gaben sich gegenseitig Anweisungen, was zu tun sei, kalte Wickel, Mund-zu-Mund-Beatmung, den Notarzt rufen…

Glücklicherweise war keine dieser Maßnahmen erforderlich, denn es zeigte sich sehr schnell, dass der Weihnachtsmann alles andere als ein Weichei und durchaus hart im Nehmen war. Nur wenige Sekunden nach dem Aufprall gewann das rote Knäuel allmählich Kontur. Die Beine mit den schwarzen Stiefeln an den Füßen ausgestreckt, den Oberkörper zurückgelehnt auf die Ellbogen gestützt, den Kopf nach links, rechts, vorn und hinten bewegend gab der Weihnachtsmann zu erkennen, dass alle Gliedmaße in Ordnung sind und ihm nichts fehlt.

Zwei kräftige junge Männer fassten ihn unter und hoben ihn wieder in die Senkrechte, was er sich widerspruchslos gefallen ließ.

„Vielen Dank, danke sehr. Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles in Ordnung. Ich habe dort oben einen Fehltritt begangen, aber mir ist Gott sei Dank nichts passiert. – Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten.“

Diese Entschuldigung hatte vielstimmige, geradezu empörte Reaktionen zur Folge, indem man betonte, wie schrecklich diese Treppe sei, wie leicht man über den Teppich stolpern konnte und wie unverantwortlich der Herr des Hauses gehandelt habe, die Bescherung in den oberen Salon zu verlegen. Die Bibliothek im Untergeschoss hätte es schließlich auch getan und im nächsten Jahr, dessen dürfe sich der Weihnachtsmann gewiss sein, würde er diese Treppe nicht mehr besteigen müssen.

Sylvias Chef lächelte verschmitzt und zog seine Mütze, die bei seinem Purzelbaum-Abgang leicht verrutscht war, wieder gerade.

„Oh, schön“, sagte er vergnügt, „Bibliothek finde ich gut. Ich liebe Bücher.“

Während er das sagte, verstummten alle Anwesenden und starrten ungläubig auf das Teppichpolster vor dem Heizkörper.

„Das hat Sie fraglos vor Schlimmerem bewahrt“, konstatierte der Hausherr und sog nachdenklich an seiner Zigarre. „Aber wie kommt das dorthin? Vorhin lag der Teppich doch noch auf der Treppe…!“

Die gesamte Familie, die sich auf dem Podest drängte, war zutiefst irritiert, um nicht zu sagen, konsterniert über das sorgsam zusammengefaltete Teppichpolster vor dem Heizkörper.

„Wie konnte das geschehen?“ fragte die grauhaarige alte Dame. „das grenzt ja an ein Wunder.“

„Na ja“, sagte der Weihnachtsmann und lächelte süffisant, „vielleicht war es das Christkind. Man sagt, es könne Wunder vollbringen.“

Behutsam auf seine Schritte achtend stieg er nun den restlichen Treppenabschnitt hinunter, drehte sich noch einmal um und grüßte die Schar der offenen Münder mit einer segnenden Handbewegung. „Frohe Weihnachten, Ihnen allen. Und verlieren Sie nie den Glauben an das Christkind. Es kann wirklich helfen.“

Damit drehte er sich um und durchschritt die von dem anderen Herrn in Schwarz aufgehaltene Tür nach draußen.

„Ho, ho, ho, das hättest du sehen sollen“, sagte er kichernd und gab seinem Esel einen ermunternden Klaps auf den Hintern, was diesen veranlasste, einen kleinen Satz nach vorne zu machen und laut ‚Iah’ zu rufen.

„Wo bist du, Christkind Sylvia? Komm’, zeig’ dich. Ich will mich bei dir bedanken.“

Christkind Sylvia schwebte heran – mit leichter Schlagseite, besser ging es nun mal nicht – und strahlte wie – nun ja, wie eben das Christkind.

„Das hast du wirklich fein gemacht“, sagte der Weihnachtsmann mit warmer Stimme und nickte bekräftigend. „Mein kleiner Fehltritt hätte ganz schön ins Auge gehen können und wir hätten uns blamiert bis auf die Knochen. – Danke, mein kleines Weihnachtsengelchen. Du hast es mir und allen anderen gezeigt, dass man auch mit einer Behinderung Großes vollbringen kann, wenn man nur will.“

Sylvia strahlte. So viel Lob von ihrem Chef, der doch sonst ziemlich wortkarg und eher grummelig daher kam, versetzte sie in regelrechte Euphorie.

„Aber nicht wieder leichtsinnig werden und den Looping probieren. Das kann auch ins Auge gehen, wie du inzwischen weißt.“ Dabei musste der Weihnachtsmann laut lachen und gab seinem Esel einen noch kräftigeren Klaps, was dieser mit einem noch weiteren Satz nach vorne und einem noch längeren ‚Iah’ quittierte.

Unglaublich, dachte Christkind Sylvia, er hat es gesehen, aber sich nichts anmerken lassen. Was für ein guter, liebenswerter Weihnachtsmann. Von ihm werde ich noch manches lernen können.


Diese Heilige Nacht war lang und anstrengend und beide – den Esel nicht zu vergessen – waren froh, endlich wieder im paradiesischen Wolkenreich angekommen zu sein. Der Gehilfe Walter hatte sich in erster Linie um das Wohlergehen des Grautiers zu kümmern. Als er zurück kam, staunte er nicht schlecht, als er den Jungengel Sylvia nun neben seinem Chef auf dem breiten Wolkensessel sitzen sah.

„Ist alles in Ordnung? Haben Sie sich wirklich nicht weh getan?“ fragte er besorgt.

„Ach was“, raunzte der Alte. „Mir ist nichts passiert. Aber jetzt mache mir schleunigst einen Draht zu Meister Petrus.“

Walter zog den Kopf ein, denn es hatte sich herumgesprochen, dass in der Etage über ihnen dicke Luft herrschte, weil die Anfragen an Meister Petrus einfach kein Ende nehmen wollten und er zu nichts anderem mehr kam.

„Ich bitte um Verzeihung, Chef, aber das könnte schwierig werden…“

„Gar nichts wird schwierig, wenn du dich ordentlich anstrengst“, polterte der Weihnachtsmann los. „Nimm dir ein Beispiel an dem behinderten Jungengel Sylvia“, wobei er sie väterlich-zärtlich in die Arme nahm. „Du schaffst alles, wenn du weißt, was du willst und niemals aufgibst. – Also spute dich, und keine Widerrede mehr!“

Der Gehilfe Walter wusste, dass er dem entschiedenen Auftreten seines Chefs nichts entgegensetzen konnte. Jetzt half nur eines: Sich über alle Maßen konzentrieren, all die anderen telepathischen Kanäle, die zu Meister Petrus führten, überlagern und mit aller Kraft versuchen, schnellst möglich den Kontakt herzustellen. Schließlich war der Weihnachtsmann ja auch nicht irgendwer, und Meister Petrus würde da sicherlich auch seine Prioritäten setzen – hoffte Walter. Und siehe da, seine Hoffnung wurde nach wenigen Minuten intensivster Konzentration nicht enttäuscht. Meister Petrus meldete sich.
„Ach sieh an, mein tapferer Niko und sein flügellahmer Engel sind vom Außendienst zurück“, meinte er spöttisch. „War ja eine filmreife Nummer, die ihr da auf dem Gutshof abgeliefert habt. Wenn wir hier oben Oscars zu vergeben hätten – ihr wärt bestimmt nominiert.“

Der Weihnachtsmann fand diesen Spott von Meister Petrus überhaupt nicht witzig und hielt ohne Umschweife dagegen, bestimmt, sachlich und mit dem gebotenen Respekt, aber auch mit einem Unterton, der deutlich machte, dass er keineswegs zu Scherzen aufgelegt war. Der Gehilfe Walter und das Christkind Sylvia kannten das – Meister Petrus vielleicht noch nicht.

„Du hast mir einen behinderten Jungengel als Christkind mit auf den Weg gegeben, vielleicht auch in der heimlichen Annahme, dass wir uns ordentlich blamieren…“

„Aber, aber, Niko, so etwas würde ich doch nie tun“, unterbrach Meister Petrus mit entrüstetem Tonfall.

„Gut, dann eben nicht mit dieser Erwartungshaltung. Aber du hast mitbekommen, mit welcher Begeisterung und welchem Einsatz Christkind Sylvia – trotz ihrer Behinderung – gearbeitet hat. Oder ist dir das entgangen?“

„Nein, nein, ganz und gar nicht“, bemühte sich Meister Petrus, auf die Sachebene zurückzukommen.

„Na bestens“, konstatierte der Weihnachtsmann zufrieden, „dann ist dir ja auch klar geworden, dass die Nummer mit dem Teppichpolster kaum ein Schutzengel hinkriegt, der voll flugfähig ist.“

„Das war schon eine beachtliche Leistung von Jungengel Sylvia“, musste Meister Petrus etwas kleinlaut einräumen.

„Sehr schön“, stellte der Weihnachtsmann nun seines Sieges gewiss fest, „dann sind wir uns ja hoffentlich einig, dass du die Bestrafung von Jungengel Sylvia aufgrund ihrer herausragenden Leistungen in der Heiligen Nacht zurücknimmst und ihr mit sofortiger Wirkung wieder zur vollen Flugfähigkeit verhilfst.“

„Aber, so einfach…“

„Was aber“, fuhr der Weihnachtsmann dazwischen. Jetzt war er in seinem Element, und ob das auf der anderen Seite Meister Petrus war, interessierte ihn in diesem Moment reichlich wenig.

„Ein behindertes Christkind hat mich, und damit uns alle hier oben, vor einer riesigen Blamage bewahrt und in der Wahrnehmung der anwesenden Menschen ein kleines Wunder vollbracht. Hat Jungengelchen Sylvia damit nicht eindeutig klar gemacht, dass sie sich ohne Wenn und Aber für unsere gute Sache einsetzt. Ihren Fehler hat sie längst bereut, und wenn du der verlängerte Arm eines verzeihenden Gottes bist, dann erkenne ihre großartige Leistung an und nimm die Behinderung von ihr. Im Vollbesitz ihrer Kräfte kann sie nämlich noch viel mehr.“

Für einen Augenblick herrschte auf der anderen Seite Schweigen, und Walter wollte schon nachfragen, ob der telepathische Kanal noch offen ist. Doch dann meldete sich Meister Petrus zurück.

„Ja gut, du hast mich überzeugt. Das Vergehen von Jungengel Sylvia ist damit abgegolten, sie erhält ihre volle Flugfähigkeit mit sofortiger Wirkung zurück. – War’s das?“

„Ja, das war’s“, antwortete der Weihnachtsmann zufrieden. „Danke, Meister Petrus. Mein Gehilfe macht den Kommunikationskanal jetzt zu, damit du dich anderen Problemen widmen kannst.“

Der Gehilfe Walter hatte verstanden und leitete umgehend die notwendigen Abmeldeformalitäten ein. Aber da so viele darauf warteten, mit Meister Petrus ins Gespräch zu kommen, ging es recht flott über die Bühne.

Jungengel Sylvia fasste an ihren rechten Flügel und spürte, wie er wieder zu voller Größe anwuchs. Ihre Zeit der Behinderung war beendet und sie konnte wieder mit ganzem Einsatz fliegen wie es sich für einen Schutzengel gehört, auch wenn er gerade als Christkind unterwegs ist. In ihrer überschwänglichen Freude drückte sie dem Weihnachtsmann einen Kuss auf die Wange. Dann sprang sie auf und vollführte einen doppelten Looping.

„Siehst du, es geht wieder. Jetzt bin ich wieder top in Form“, jauchzte sie voller Freude. Danke, lieber Weihnachtsmann, danke für alles, was du für mich getan hast.“

„Danke nicht mir, Sylvia, danke dir selbst“, sagte er bedächtig. „Auch mit dem vermeintlichen Makel deiner Behinderung warst du top in Form, mehr noch, du bist über dich hinausgewachsen. Vergiss das nie. 

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