------------------------------------

---------------------------------------

-------------------------------------

-------------------------------------

Netanjahu sagt die Wahrheit – auch wenn es nur die halbe ist

Von Peter Haisenko 

Es ist ungewöhnlich, dass deutsche Politiker, zumal die Kanzlerin, einem israelischen Staatsmann widersprechen. Was war geschehen? Netanjahu hat die Rolle des einstigen palästinensischen Großmuftis von Jerusalem, Hadji Amin al- Husseini, korrekt beschrieben, indem er sagte, jener habe vor 70 Jahren die Ausrottung aller Juden gefordert und Adolf Hitler dazu angestachelt. Gleichzeitig konstatierte Netanjahu, dass der Diktator ursprünglich keinen Massenmord an den Juden geplant habe, sondern lediglich deren Vertreibung. Ungeheuerlich! Damit stellte Israels Premier die befohlene deutsche Geschichtsschreibung infrage – und dem musste seitens der Kanzlerin und Anderer pflichtgemäß gegengehalten werden, dass selbstverständlich die Deutschen, und nur die Deutschen für den Holocaust verantwortlich waren.

Geschichtsklitterung, vor allem wenn es um Schuldzuweisungen gegen die Deutschen geht, ist nicht neu. Ich nenne ein Beispiel, wo entgegen gerichtlichen Feststellungen – also wider besseres Wissen – 30 Jahre lang auf einem gefälschten Geschichtsbild zu Ungunsten Deutschlands beharrt worden ist. Etwa 1964 fand vor dem Oberlandesgericht in München unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Prozess statt. Die Witwe eines SS-Offiziers hatte den „Spiegel“ verklagt, die Behauptung zu unterlassen, die SS hätte die polnischen Offiziere in Katyn ermordet. Sie gewann diesen Prozess mit wehenden Fahnen und spätestens zu diesem Zeitpunkt – 1964 – war unzweifelhaft nachgewiesen, dass es keine direkte deutsche Schuld an der Ermordung der polnischen Offiziere in Katyn gab. Woher ich das weiß? Mein Vater war Dolmetscher und Übersetzer bei diesem Prozess.

Minderung der deutschen Schuld darf nicht sein

1994 hat Russland diesen Teil der Geschichte richtiggestellt: Der NKWD, der mörderische Geheimdienst der UdSSR, hat dieses Verbrechen begangen. Es bedurfte erst des Drucks von außen, bis man in Deutschland zugeben musste, dass zumindest dieser Teil deutscher Schuld zu streichen ist. Ich wiederhole: Das Wissen darüber war zu diesem Zeitpunkt mindestens 30 Jahre alt. Nun wehrt man sich vehement gegen weitere Korrekturen der deutschen Geschichtsschreibung, selbst wenn sie von einem israelischen Politiker angemahnt werden. Deutsche Schuld darf in keinem Fall gemindert oder gar relativiert werden. Dem stimme ich grundsätzlich zu, allerdings unter der Voraussetzung, dass es sich dabei nur um Schuldzuweisungen handeln darf, die einer unparteiischen Beurteilung standhalten können.

Wie meist praktiziert, hat auch Netanjahu seine Geschichtsschilderung mit einem Zeitpunkt begonnen, der dem gesamten Ablauf nicht gerecht wird. Seinem Standpunkt fehlt der Teil, warum al-Husseini überhaupt in die Position gekommen ist, derartige Gespräche mit Hitler führen zu können. Warum er das so tat, ist nachvollziehbar. Würde er die Wurzel des Übels nennen, dann müsste er das British Empire ultimativ belasten. Die Briten hatten 1920 dem Juden Sir Herbert Samuel das Amt des Britischen Hochkommissars für Palästina übertragen. Dieser tat alles, um Juden und Araber gegeneinander aufzubringen und entfachte einen bis dahin kaum vorhandenen Hass zwischen den beiden Volksgruppen. Er versorgte beide Seiten mit Waffen. 1921 setzte er auch noch al-Husseini als Großmufti von Jerusalem ein.

Die Briten machten den Judenhasser zum Großmufti

Al-Husseini war den Briten bestens bekannt als fanatischer und gewalttätiger Judenhasser. Deswegen ist er sogar verhaftet und zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt worden. Aus unerfindlichen Gründen konnte er entfliehen. Kann es ein lauteres, im Sinne von friedenstiftendes, Motiv geben, wenn dann eben diese Briten ihren Hochkommissar Samuel ermächtigen, ausgerechnet diesen Mann als Großmufti Jerusalems einsetzen? Noch dazu verfügte al-Husseini, der damals mit gerade 26 Jahren der jüngste Großmufti aller Zeiten wurde, weder über eine angemessene Ausbildung für dieses hohe Amt, noch hatte er die Zustimmung eines einzigen muslimischen Rats. Seine einzige „Qualifikation“ war sein mörderisch fanatischer Judenhass, der den Briten bekannt war. Kein Wunder also, dass er in Hitler einen Freund und Gesinnungsgenossen gesucht und gefunden hat. Frau Merkel hat aber sicher Recht, wenn sie anführt, dass Hitler nicht auf die Inspiration al-Husseinis angewiesen war.

Netanjahu sagt das Ungeheuerliche: Die Ermordung von Juden war ursprünglich nicht geplant. Damit fordert er die Deutschen direkt auf, sich doch einmal unvoreingenommen mit ihrer Geschichte zu beschäftigen und er hat Recht. Wer trotz Verbots Hitlers „Mein Kampf“ gelesen hat, weiß, dass Hitler in diesem Buch keinen Plan zur Ermordung von Juden vorlegt. Er ergeht sich ausführlich darüber, dass er die Juden hasst und für alle möglichen Übel der Welt verantwortlich macht. Hitler will Juden aus Deutschland ausweisen und stellt sich damit an die Seite des polnischen Marschalls Pilsudski, der 1937 alle 2,5 Millionen polnische Juden auf die von den Franzosen besetzte Insel Madagaskar ausweisen wollte. Frankreich hat das abgelehnt.

Polnische Juden suchten Schutz in Nazi-Deutschland

In Polen wurden damals Juden sehr schlecht behandelt. So schlecht, dass Hitlers Plan der Ausweisung vollständig konterkariert worden ist. Bis 1939 – die NSDAP war also bereits seit sechs Jahren an der Macht – haben 537.000 polnische Juden in Nazi-Deutschland Schutz vor den Übergriffen der Polen gesucht. Damit hatte sich die Anzahl der Juden in Deutschland mehr als verdoppelt, während Hitler Deutschland ja gerade „judenfrei“ haben wollte. Die sogenannten „Ostjuden“ waren auch bei den in Deutschland seit Generationen lebenden Juden nicht gut gelitten. Hinzu kam, dass die Ausreise von Juden aus Deutschland schwierig bis unmöglich war. Dies nicht etwa deswegen, weil sie Deutschland nicht ausreisen lassen wollte, sondern weil sie kein Land finden konnten, das sie willkommen geheißen hätte. FDR, Franklin Delano Roosevelt, der amerikanische Präsident, hatte sich 1938 auf der Konferenz in Paris kategorisch „gegen jede weitere Zuwanderung europäischer Juden nach USA“ verwehrt. Damit nicht genug, hat er seine Macht benutzt, anderen Ländern zu verbieten, Juden aufzunehmen. Ich nenne hier exemplarisch Kuba und die Dominikanische Republik.

Deutschland hat zweifellos schwerste Schuld auf sich geladen, was den Umgang mit Juden, anderen Ethnien und Andersdenkenden anbelangt. Das darf in keiner Weise relativiert werden. Wenn jetzt aber der Jude Netanjahu feststellt, dass die Ermordung derselben nicht von Anfang an geplant war, dann sollte man nicht sofort in „nationalmasochistischer“ Weise darauf beharren, die Schuld der Deutschen unverändert fortzuschreiben. Wenn wir betrachten, wo und warum in der Welt heute Krieg geführt wird, Kulturen zerstört und ganze Landstriche unbewohnbar gemacht werden und wer dafür verantwortlich zeichnen muss, dann bleibt Deutschland hier außen vor. Macht man sich die Mühe, nach den Wurzeln zu suchen, bleibt eine Ursache übrig: Es gibt keinen aktuellen Krieg/Konflikt, der nicht ursächlich auf das Treiben des British Empire zurückzuführen ist. Allerdings muss man bei dieser Analyse zurückblicken bis ins späte 19. und frühe 20. Jahrhundert.

Britische Willkür entfachte den Hass zwischen Arabern und Juden

Speziell die Probleme im Nahen und Mittleren Osten sind entstanden, weil London das so wollte. Nachdem das British Empire 1916 das Osmanische Reich – völkerrechtswidrig – angegriffen und zerstört hatte, wollte es mit allen Mitteln verhindern, dass dort ein neues Staatsgebilde entsteht, das ein eigenständiger Machtfaktor in der Region werden könnte. Man stelle sich einen Staat vor, dessen Grenzen von Persien bis zum Mittelmeer reichen: Öl im Überfluss, ausreichend Nahrungsmittel in der Bekaa-Ebene und den Weg frei in die Moderne mit Unterstützung der zugewanderten Juden aus Europa. Palästina war bis 1916 das Modell, das genau das erwarten ließ. Dann kamen die Engländer. Sie haben willkürliche Grenzen festgelegt, die garantierten, dass kein auf Dauer funktionsfähiger Staat entstehen kann, und zusätzlich den Konflikt zwischen Juden und Arabern entfacht. Nur so war es möglich, die Kontrolle über das Öl zu behalten.

Netanjahu hat einen halben ersten Schritt gewagt. Vielleicht hat er an den Vorgängen rund um sein Land erkannt, dass die angelsächsische Politik auch für Israel tödlich sein kann. Gerade im letzten Monat ist unübersehbar geworden, dass die USA, die für die Zustände im Irak, in Libyen und Syrien verantwortlich zeichnen müssen, offensichtlich nicht ernsthaft daran interessiert sind, den IS aufzulösen oder anderweitig für stabile Verhältnisse in der Region zu sorgen. Erst mit dem Eingreifen Russlands keimt erstmals Hoffnung auf, dass die Konflikte gelöst werden können. So mehren sich im Irak die Stimmen, sich von den USA abzuwenden und Russland um Unterstützung im Kampf gegen die Mörderbanden des IS zu bitten. Wie weit ist Netanjahu davon entfernt, es Syrien und Irak gleich zu tun? Hat er erkannt, dass die angelsächsische Politik „Verbündete“ sucht und fallen lässt, je nachdem sie den imperialen Zielen der USA dienlich sind? Dass die USA keine Verbündeten kennen, sondern nur Vasallen?

Israel braucht verlässliche Partner

Warum also belehrt Netanjahu Deutschland bezüglich seiner Geschichte? Kann es sein, dass er Deutschland für einen verlässlicheren Partner hält als die USA? Sieht er vielleicht, dass Deutschland gerade zerstört werden soll und er seinen verlässlichsten Partner verlieren könnte? Kann es sein, dass er uns einen Impuls liefern will, unser Geschichts- und Selbstbewusstsein neu zu definieren? Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Abend in Tel Aviv im Jahr 1976. Dort hat mich ein alter Jude mit der Aussage verblüfft, die Deutschen und die Juden müssten die besten Freunde sein. Er begründete das so: Die Deutschen und die Juden sind beide Opfer des Weltbeherrschungsanspruchs des British Empire geworden. Nach langen Jahren des Zweifels und der Forschung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass dieser kluge Mann die Wahrheit gesprochen hat.

Ich gehe heute so weit zu sagen, dass die ganze Welt Opfer des angelsächsischen Imperiums geworden ist. Der Fehler, den speziell die Deutschen machen, ist, dass sie sich die einseitige angelsächsische Geschichtsschreibung kritiklos zu Eigen gemacht haben. Sie haben sich einreihen lassen in den Kanon, eigene Verfehlungen zu überhöhen und angelsächsische als Taten der Guten und selbstverständlich immer moralisch unantastbar zu sehen. Die mit flagranten Lügen begründeten Angriffs- und Zerstörungskriege der USA lassen aber immer offensichtlicher werden, dass „die Guten“ alles andere als gut sind. Netanjahu weiß das und ist vielleicht zu dem Schluss gelangt, dass auch in Palästina nur Frieden einkehren kann, wenn die Welt endlich die Verbrechen der USA und Englands aufarbeitet und aburteilt. Wenn Arabern und Juden vermittelt wird, dass sie keineswegs durch uralten oder naturgegebenen Hass voneinander getrennt, sondern dem British Empire auf den Leim gegangen sind. Mit dieser Erkenntnis, und nur mit dieser Erkenntnis, könnte der Konflikt zwischen Juden und Arabern beigelegt werden. Dazu gehört aber auch, dass Deutschland zu einem ehrlich realistischen Geschichtsbild zurückfindet. Wenn das das Ziel Netanjahus ist, dann kann ich nur sagen: Danke, Bibi!



Wenn Sie neugierig geworden sind, was die Entstehung des Hasses in Palästina betrifft, dann empfehle ich das Kapitel „Israel“ in meinem Werk „England, die Deutschen, die Juden und das 20. Jahrhundert“. Dort erfahren Sie auch, wie die Engländer die Teilung Zyperns hergestellt haben. Im Buchhandel oder direkt beim Verlag hier.

Wenn Sie diese Seite aufrufen, finden Sie auch zwei Statistiken die belegen, dass Deutschland seit Jahrhunderten das friedlichste Land auf dem europäischen Kontinent war.

Nach oben